Wie Sie spannende Wissenschaftstexte schreiben und Ihr Publikum begeistern
Wenn Sie einfach nur mit Summa cum Laude promovieren wollen, ist dieser Aufsatz nichts für Sie. Kommen Sie gerne wieder, wenn Sie das Rigorosum hinter sich haben.
Aber wenn Sie zu einem wissenschaftlichen Thema etwas zu sagen haben, in eine Debatte eingreifen wollen oder es leid sind, nur von einer handvoll Fachgelehrter gelesen zu werden – dann kommen Sie auf Ihre Kosten.
Auch Ingenieure, Produktentwickler oder Ärzte werden hier erfahren, wie sie die Kraft wissenschaftlicher Argumente für Geschäft und Karriere nutzen können.
Das erkläre ich ihnen am Beispiel von Astrophysiker, Fernsehstar und Bestsellerautor Neil deGrasse Tyson.
Inhalt
Das Universum für Eilige
«Am Anfang, vor nahezu 14 Milliarden Jahren, drängte sich aller Raum, alle Materie und alle Energie des bekannten Universums auf kaum ein Billionstel der Grösse des Punktes, der diesen Satz beendet.»
So beginnt Neil deGrasse Tyson seinen Weltbestseller «Astrophysics for People in a Hurry» («Das Universum für Eilige», Piper).
Im Original klingt das am besten, nämlich so:
«In the beginning, nearly fourteen billion years ago, all the space and all the matter and all the energy of the known universe was contained in a volume less than one-trillionth the size of the period that ends this sentence.»
Was für ein Auftakt für ein Sachbuch. Und zugleich die erste Lektion für spannende (nicht nur verständliche) Wissenschaftstexte.
1. Machen Sie es anschaulich.
Das Universum war nicht so gross wie ein Millionstel eines Staubkorns oder einer winzigen Bakterie.
Es war so gross wie ein Billionstel des Punktes, der diesen Satz beendet. Von den unzähligen Möglichkeiten, die Winzigkeit des Anfangs zu benennen, nimmt Neil deGrasse Tyson den Punkt, den Sie direkt vor Augen haben. Den Punkt müssen Sie sich nicht vorstellen. Sie könnnen ihn sehen. Sie können mit dem Finger darüberstreichen und sich wundern, wie aberwitzig klein der Anfang war.
Anschauliche Vergleiche sind vor allem dann wichtig, wenn es um Zahlen geht, die zu klein oder zu gross zum Vorstellen sind.
Ich weiss zwar immer noch nicht recht, wie klein ein Punkt ist, dessen millionsten Teil ich noch einmal in eine Million Teile schneide. Aber dass er so richtig, richtig klein sein muss, das habe ich verstanden.
2. Achten Sie auf Emotionen
An Hochschulen gilt es als hohe Kunst, wissenschaftliche Texte möglichst emotionslos zu formulieren. So entstehen sachliche, aber langweilige Texte.
Ich bin ein Fan von Emotion – auch in wissenschaftlichen Texten.
Die Begeisterung fürs Thema darf auch in einem Sachtext durch die Zeilen drücken. Das sorgt für Schwung, Lesefreude und Glaubwürdigkeit. Wenn Sie der gleichen Meinung sind und gerade an Ihrer Dissertation schreiben, muss ich Sie aber warnen: Mancher Doktorvater empfindet das als unwissenschaftlich.
Lieber vorher fragen.
Hier geht es aber vor allem um populärwissenschaftliche Texte (der Doktorvater hebt geringschätzig die Braue). Bei denen sind nicht nur die Emotionen des Schreibers wichtig. Auch die des Lesers spielen eine Rolle. Vor allem dann, wenn das Thema kontrovers diskutiert wird. Bei solchen Themen lösen Fakten keine Erkenntnis, sondern Gefühle aus.
Gefühle sind schneller und stärker als Vernunft.
Wenn es brenzlig wird, ist die Angst sofort da. Dann rennen oder kämpfen wir, ohne lange nachzudenken. Das hat sich in der Evolution bewährt und ist im Bewusstsein fest verdrahtet. Die Ratio hat auch ihren Ort und ihre Zeit. Aber sie wirkt langsam und langfristig und nur wenn gerade keine Gefahr akut ist.
Wenn Sie ängstliche Menschen mit Argumenten erreichen wollen, brauchen Sie eine spezielle Strategie. Sie müssen einen Zweifel säen, der für einen kurzen Moment infrage stellt, ob Flucht oder Kampf wirklich die beste Antwort ist. Diesem Zweifel schicken Sie Ihre Argumente hinterher.
Das klappt in 20% der Fälle – immerhin.
Aktuell gibt es eine Debatte zu Corona, in der sich wissenschaftliche Fakten nur schwer behaupten. Angst, Hilflosigkeit oder Wut blockieren die Vernunft.
Bei Quora las ich kürzlich eine Diskussion über eine seltene Nebenwirkung der Corona-Impfung aus dem Hause Astra Zeneca: Bei 0,0005% der Geimpften trat eine lebensbedrohliche Sinusnerventrombose auf.
Ein Quora-Nutzer stellte die Frage:
«Warum sollte ein gesunder und sportlicher 20-jähriger Mensch eine Hirnvenenthrombose durch AstraZeneca riskieren, wenn rein statistisch die Wahrscheinlichkeit, an Corona zu sterben, fast nicht existent ist?»
Ja, warum sollte er? «Weil er rechnen kann», beginnt Jobst von Steinsdorff seine Antwort.
Dann rechnet er akribisch vor, dass selbst ein gesunder 20-jähriger 1000-mal eher an einer Corona-Infektion stirbt (etwa 0.15% Risiko) als an der schweren Nebenwirkung «Sinusnerventrombose» (etwa 0,00017% Risiko).
Aber wenn Angst im Spiel ist, bewirkt Statistik nur wenig. Angst macht irrational und das illustriert von Steinsdorff zum Ende seines Beitrags mit einem anschaulichen Vergleich:
«Die Ausgangsbasis der Frage mag ob der Berichterstattung emotional verständlich sein, rational ist sie aber nicht. Ebenso wie der nicht rational ist, der Angst hat, sich ins Flugzeug zu setzen, aber keinerlei Bedenken, mit dem Auto zum Flughafen zu fahren.»
Das gibt zu denken. Vielleicht.
3. Lassen Sie den Text klingen
Ein guter Text ist nicht nur verständlich und interessant. Er klingt auch gut und hat einen Rhythmus, der ins Blut geht.
Vor allem in den entscheidenden Passagen (Einstieg, zentrale Aussagen, Resümee) lohnt es sich, an Melodie und Kadenz des Ausdrucks zu feilen. Für alle anderen Textteile gilt: Lesen Sie sie laut vor. Wenn das flüssig geht, ist die Melodie in Ordnung.
Schauen wir uns noch einmal den ersten Satz an. Wir nehmen ihn auseinander und schreiben die Satzglieder untereinander:
«In the beginning,
nearly fourteen billion years ago,
all the space
and all the matter
and all the energy
of the known universe
was contained in a volume
less than one-trillionth the size of the period
that ends this sentence.»
Merken Sie, wie dieser Satz Anlauf nimmt, von Zeile zu Zeile ein paar Buchstaben hinzugewinnt, bis zu seinem Höhepunkt, der uns aus der unendlichen Weite des Universums zurückholt zu dem Punkt, mit dem er endet?
Die deutsche Übersetzung bei Piper liest sich nicht ganz so gut.
«Am Anfang, Vor fast 14 Milliarden Jahren,
nahmen der gesamte Raum,
die gesamte Materie
und die gesamte Energie
des bekannten Universums
weniger als ein Billionstel der Grösse des Punktes ein,
der am Ende dieses Satzes steht.»
Schon die Silhouette des Satzes zeigt, dass er nicht an das Original heranreicht. Daher habe ich meine eigene Übersetzung an den Anfang dieses Textes gestellt. Sie bewahrt etwas mehr von dem Schwung des Originals:
«Am Anfang,
vor nahezu 14 Milliarden Jahren,
drängte sich
aller Raum,
alle Materie
und alle Energie
des bekannten Universums
auf kaum ein Billionstel der Grösse des Punktes,
der diesen Satz beendet.»
Das liegt am Rhythmus der Satzglieder und der dichteren Sprache. «Aller Raum, alle Materie und alle Energie» liest sich flüssiger als «der gesamte Raum, die gesamte Materie und die gesamte Energie» (und ist auch näher am Original). Ausserdem: Zwischen «nahmen» und «ein» (den beiden Teilen des Verbs einnehmen) liegen in der Piper-Übersetzung 21 Wörter. Das macht Mühe. Deshalb und weil das Verb ausdrucksstärker ist, habe ich «drängte sich» gewählt.
Die Klammer aus den gegensätzlichen Begriffen am Anfang und Ende des Satzes «In the beginning» und «ends this sentence.» klingt im Deutschen sogar noch etwas eindrucksvoller, weil das Wort «Anfang» weiter vorne steht und das «beendet» ganz am Schluss.
Ich wette, Neil deGrasse Tyson hätte gern «… of the period that this sentence ends.» formuliert. Shakespeare hätte das bestimmt getan. Aber heute lässt einem das kein Lektor mehr durchgehen.
4. Bringen Sie Ihre Leser zum Staunen
Der Einstieg von «Das Universum für Eilige» ist so stark, weil er einfach und anschaulich ist und weil er uns zum Staunen bringt.
Dass das Universum vor dem Urknall klein gewesen ist – klein gewesen sein muss – hatten wir uns schon gedacht.
Ein Feuerwerkskörper ist vor dem Knall auch klein und dann fliegen seine Funken über den ganzen Himmel. Also war auch das Universum vor dem Knall klein. Vielleicht so klein wie der Thunersee, das Matterhorn oder wengistens wie die Monte-Rosa-Hütte.
Aber nein, lernen wir. Noch viel, viel mikroskopisch kleiner war das ganze Universum; und trotzdem haben sich daraus alle Planeten, Sterne und Galaxien entwickelt.
Erstaunlich.
Staunen, das ist der grosse Hunger nach der Welt, der uns befällt, wenn wir den Zipfel von etwas Bemerkenswertem entdecken. Den Zipfel von etwas, das unsere Sicht der Welt verändert.
Dann lauschen wir voller Hingabe.
Sobald unser Bewusstsein die Welt wahrnimmt, beginnt das Staunen. Denn das Staunen ist für das Bewusstsein, was das Atmen für die Lunge ist.
Der Verlockung des Staunens kann sich niemand entziehen. Und die Wissenschaft hat jede Menge Material, das uns zum Staunen bringen kann; wenn sie auf die Leser zugeht, bis sie verstehen können, dass die fremde Einsicht ihre Welt berührt.
5. Bauen Sie Menschen in Ihre Geschichte ein
Menschen machen Wissenschaft interessant. Schauen Sie selbst, wie es Ihnen ergeht, wenn ich Ihnen noch etwas mehr über das Staunen erzähle. Dazu reisen wir ins Stockholm der 70er Jahre, zu Hugo Lagercrantz, der sich auf der Frühchen-Station des Stockholmer Karolinska-Krankenhauses die Frage stellte, wann das Bewusstsein beginnt.
Die Antwort vorweg: Zwischen der 24. und der 27. Schwangerschaftswoche, das wissen wir dank seiner Forschung, beginnt unser Bewusstsein (und mit ihm das Staunen).
Früher glaubte man, die ganz kleinen Frühchen könnten noch nichts empfinden. Daher wurden sie ohne Betäubung intubiert und auch sonst eher wie zerbrechliche, belebte aber empfindungslose Dinge behandelt.
Wie aber konnte es sein, wunderte sich Lagercrantz, dass die Frühchen sich zu entspannen schienen, wenn sie eine warme Hand spürten und zuckten, wenn sie ein Gummischlauch berührte? War das kein Hinweis auf Bewusstsein?
Diesem Zweifel ging er nach und dank seiner Forschung werden heute auch die Frühchen wie kleine Menschen umsorgt.
Merken Sie, wie viel interessanter es ist, Hugo Lagerkrantz auf seine Entdeckungsreise zu folgen, statt nur die Fakten zur Kenntnis zu nehmen?
Auch Neil deGrasse Tyson erzählt in seinem Buch viel über die Menschen, die unser modernes Bild vom Kosmos prägten. So zum Beispiel bei der «kosmischen Hintergrundstrahlung». Sie ist das schwache Nachbild des Urknalls, das wir heute noch überall als gleichförmigen Strahlungsteppich mit einer Temperatur von 2.725 Grad Kelvin messen können.
Die Entdeckung der Strahlung ist mit zwei Menschen verbunden, die 1964 zufällig darüber stolperten, als sie an einem besonders empfindlichen Mikrowellenempfänger schraubten.
In «Das Universum für Eilige» beginnt daher der Abschnitt über die Hintergrundstrahlung mit der amüsanten Geschichte von Arno Penzias und Robert Wilson, die sich über ein lästiges Rauschen in ihrem Empfänger ärgerten und so «versehentlich» die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckten. Eine Entdeckung, für die sie 1978 den Nobelpreis erhielten. (Wo? In Stockholm, ganz in der Nähe von dem Krankenhaus, wo Hugo Lagercrantz zur gleichen Zeit den Anfängen des menschlichen Bewusstseins nachging.)
Wenn Sie ein wissenschaftliches Thema haben, dann stellen Sie eine Verbindung zu den Menschen her, die auf diesem Gebiet forschen; den Menschen, für die die Ergebnisse wichtig sein könnten oder den Menschen, die den Anstoss gaben, überhaupt erst in diese Richtung zu schauen.
6. Erzählen Sie Ihre persönliche Version
Es gibt genau einen Menschen, dessen Auftritt Ihrem Text besonders hilft: Sie.
Wir interessieren uns für Fakten. Aber wir wollen auch wissen, von wem die Fakten stammen. Wir möchten die Persönlichkeit des Autors spüren, bevor wir uns auf sein Urteil einlassen.
Daher ermutige ich Sie: Erzählen Sie Ihre ganz persönliche Version Ihrer Geschichte.
Es ist kein Zufall, dass ich in diesem Artikel immer wieder Neil deGrasse Tysons Buch zitiert habe. Ich habe es mit Genuss und Gewinn gelesen, seine Vorträge auf Youtube (auf Englisch) angeschaut und mich dem Staunen hingegeben.
Dann passierte lange nichts und einige Monate später kam mir die Idee, aus genau dieser Erfahrung einen Artikel zu machen. Sie haben sicher gespürt, dass ich ein Fan seiner Bücher, seiner anschaulichen Sprache, seines Humors und seiner Entertainer-Qualitäten bin. Das hat diesem Artikel kein bisschen geschadet. So tönt es eben, wenn ich daraus meine Geschichte mache.
Wie nützlich die eigenen Erfahrungen (auch ausserhalb des Wissenschaftsbetriebs) für das wissenschaftliche Schreiben sein können, illustriert noch einmal eine Anekdote mit Neil deGrasse Tyson.
Es geht um ein Erlebnis, das den Unterschied zwischen Glaubenssätzen und Naturgesetzen illustriert und uns spüren lässt, wie Neil deGrasse Tyson «tickt»:
In einem Café in Pasadena (Kalifornieren), hatte Neil sich einen Kakao mit geschlagener Sahne bestellt. Als die Tasse kam, fehlte die Sahne.
Neil: «Auf meinemKakao fehlt die Sahne.»
Barista: « Doch doch, sie ist drin.»
Ne«Aber wo ist denn dann die Sahne?»
Barista: «Sie ist auf den Boden gesunken.»
Neil: «Entweder, die Gesetze der Physik, die im gesamten Universum gelten, sind in diesem Café ausser Kraft gesetzt oder Sie haben keine Schlagsahne auf den Kakao getan.»
Schliesslich musste der Barista «noch einmal» Sahne auf den Kakao geben und, siehe da, sie schwamm oben.
Was wir daraus lernen: Unsere Welt ist so wie sie ist, weil die Naturgesetze keine Pausen machen. Sie gelten auf den Monden des Jupiter, in meiner Garage und auch in jedem beliebigen Café in Kalifornieren. Und dank Neils persönlicher Geschichte werden Sie das nie mehr vergessen.
Das Wichtigste im Schnelldurchlauf:
Machen Sie es anschaulich Von den unzähligen Möglichkeiten, die Winzigkeit des Anfangs zu benennen, nimmt Neil deGrasse Tyson den Punkt, den Sie direkt vor Augen haben.
Achten Sie auf Emotionen Die Begeisterung fürs Thema darf auch in einem Sachtext durch die Zeilen drücken. Ausserdem: Wenn Sie ängstliche Menschen mit Argumenten erreichen wollen, müssen Sie einen Zweifel säen. Diesem Zweifel schicken Sie Ihre Argumente hinterher.
Lassen Sie den Text klingen Vor allem in den entscheidenden Passagen lohnt es sich, an Melodie und Kadenz des Ausdrucks zu feilen. Für alle anderen Textteile gilt: Lesen Sie sie laut vor. Wenn das flüssig geht, ist die Melodie in Ordnung.
Bringen Sie Ihre Leser zum Staunen Das Staunen ist der grosse Hunger nach der Welt, der uns befällt, wenn wir verstehen, dass eine fremde Einsicht unsere Welt berührt.
Bauen Sie Menschen in Ihre Geschichte ein Menschen machen Wissenschaft interessant. Stellen Sie eine Verbindung zu den Menschen her, die auf diesem Gebiet forschen, die Ergebnisse gebrauchen können oder den Anstoss gaben, überhaupt erst in diese Richtung zu schauen.
Erzählen Sie Ihre persönliche Version Wir interessieren uns für Fakten. Aber wir wollen auch wissen, von wem die Fakten stammen. Wir möchten die Persönlichkeit des Autors spüren, bevor wir uns auf sein Urteil einlassen.
Zu guter Letzt: Helfen Sie uns und teilen Sie diesen Artikel in den sozialen Medien oder per E-Mail. Wir haben kaum Budget für Werbung und sind auf Empfehlungen angewiesen.
Danke.
Das wars für heute.
Herzliche Grüsse
Matthias Wiemeyer