Das Vorbild der Meister
Zum Schreibenlernen gehört das obsessives Lesen (inklusive Eselsohrenknicken und Randnotizenkritzeln) dazu wie zum Kochenlernen das gepflegte Essen.
Nur wenige Autoren haben Ratgeber für junge Talente verfasst. Bei allen anderen müssen wir selbst auf Spurensuche gehen. Dafür sind Briefwechsel besonders ergiebig, die von den Schwierigkeiten und Erfolgsrezepten des Schreibens handeln.
Heute lernen wir drei Lektionen aus den Briefen von Raymond Chandler.*)
Wer bestimmt die Spielregeln?
Ein Meister zu sein, ist ein einsames Geschäft. Wer auf einem Gebiet erstklassig ist, findet kaum mehr adäquate Gesprächspartner. Schlimmer noch: Er ist gezwungen, seinen Standpunkt gegenüber Leuten zu verteidigen, die ihm nicht das Wasser reichen können.
So musste auch Raymond Chandlers erleben, dass seine Erzählkunst den Horizont seiner Lektoren überstieg – wie dieser (zerknirschte) Brief an den Herausgeber des «Atlantic Monthly» vom 18. Januar 1947 zeigt:
Und wenn ich den geschmeidigen Fluss meiner mehr oder weniger gebildeten Syntax mit ein paar überraschenden Worten im Kneipenjargon durchbreche, geschieht das sehenden Auges und mit entspanntem, aber aufmerksamem Geist. Das Verfahren ist vielleicht nicht perfekt, aber ich habe nur dieses eine. Gerne möchte ich glauben, dass Ihr Korrektor in bester Absicht versucht, mich vor dem Stolpern zu bewahren. Aber so sehr ich seine Fürsorge zu schätzen weiss: Ich bin ich wirklich in der Lage, trittsicher meinen Weg zu finden, wenn man mir beide Bürgersteige und die Strasse zur Verfügung stellt.
[Raymond Chandler, Brief an den Herausgeber des «Atlantic Monthly»,18. Januar 1947, frei übersetzt von Matthias Wiemeyer]
*) Woher ich diesen Text habe
Das wichtige Stichwort hier ist «kalkuliert». Die Regeln brechen darf nur, wer sie vorwärts und rückwärts kennt und kühl berechnend genau die Wirkung sucht, die der Bruch erzeugt. Wer die handwerklichen Standards aus Versehen verletzt, ist wie ein Koch, der wahllos Gewürze in den Eintopf kippt und betet.
Wer interessiert sich schon für Details?
Es gibt viele verschiedene Arten einen Text zu verhunzen. Man kann den Erzählfluss durch sinnlos angehäufte Details aus dem Rhythmus bringen, die nur die Geduld strapazieren, für Plot und Figuren aber wenig tun. Kein Deut besser sind sterile Texte, die nur Fakten aneinanderreihen, aber nie die Zeit für raffinierte Details finden, die dem Text Emotion und Tiefe geben.
Bei den Details geht es (wie überall) ums rechte Mass. Das rechte Mass ist das Mittlere, wie die alten Griechen sagten, das, was zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig liegt. Dieses Mass war zuweilen ein Streitpunkt zwischen Raymond Chandler und seinen Lektoren, wie er in diesem Brief an Frederick Lewis Allen, den Herausgeber des «Harper’s Magazine», beklagt:
Das hat der Lektor dann immer herausgestrichen, bevor die Geschichte veröffentlicht wurde: «Die Leser mögen so etwas nicht, das hält doch nur die Handlung auf.»
Aber ich war vom Gegenteil überzeugt. Es stimmt einfach nicht, dass Leser sich nur für die Handlung interessieren. In Wahrheit geht es ihnen (ohne dass sie es selbst wüssten) nur am Rande um die Handlung. Was für die Leser zählt (und was für mich zählt), sind durch Details und Dialoge geschaffene Emotionen.
*Die Leser erinnern sich nicht daran, dass ein Mann ermordet wurde, sondern daran, dass er im Moment seines Todes versucht, eine Büroklammer von der polierten Schreibtischplatte aufzuheben und dass sie ihm immer wieder entgleitet, sein Gesicht vor Anspannung verzerrt ist und sein Mund in einer verzweifelten Grimasse halb offen steht. Er denkt überhaupt nicht an den Tod. Er hört den Tod nicht einmal anklopfen. Diese verdammte kleine Büroklammer gleitet ihm immer wieder aus den Fingern …
[Raymond Chandler, Brief an Frederick Lewis Allen, 7. Mai 1948, frei übersetzt von Matthias Wiemeyer]
*) Woher ich diesen Text habe
Die Handlung macht den Charakter
In schlechten Filmen finden sich oft Gespräche oder Telefonszenen, die einer Figur noch rasch ein paar Charakterzüge umhängen, die fürs Verstehen nötig sind: «Er ist so ein liebevoller Vater. Er hängt abgöttisch an seinen Kindern.»
Jetzt zittern wir umso mehr, wenn die Entführer seinen Kindern nachstellen.
Begabtere Autoren hätten einfach eine Szene geschrieben, in der wir sehen und erleben können, was für ein wunderbarer Vater er ist. Notfalls etwas Kitschiges (Vater liest Tochter Gutenachtgeschichte vor, Tochter himmelt Vater an) oder etwas Klitzekleines (Vater räumt, versonnen lächelnd, die im Hausflur verstreuten Kinderschuhe ins Regal.)
Die besten Schriftsteller stellen uns die Figuren durch ihre Handlungen, ihre Kleidung oder die Möbel, die sie lieben vor. Das funktioniert auch mit Tieren, wie dieser Brief an Leonard Russell zeigt, in dessen Hauptperson Chandlers Katze «Tiki» ist:
Manchmal hat sie den Tick, eine Pfote lässig hochzuhalten und sie gedankenvoll zu mustern. Laut meiner Frau animiert sie uns, ihr eine Armbanduhr zu kaufen. Sie braucht sie aus keinem vernünftigen Grund – sie kann die Zeit besser einschätzen als ich –, aber etwas Schmuck scheint sie zu brauchen.
[Raymond Chandler, Brief an Leonard Russell, 29. Dezember 1954, frei übersetzt von Matthias Wiemeyer]
*) Woher ich diesen Text habe
Das Wichtigste im Schnelldurchlauf
Was haben wir heute von Raymond Chandler gelernt?
- Spielregeln schützen vor peinlichen Fehlern. Aber wirklich starke Texte brauchen den Mut zur Lücke: das gekonnte Spiel mit kalkulierten Verstössen.
- Klug gewählte Details machen Ihren Text lebendig und berühren den Leser.
- Figuren leben durch ihr Handeln und die Umstände, in denen wir sie kennenlernen.
*) Ich stöbere gerne in den Briefen kluger Geister. Meine wichtigste Quelle ist die (englische) Website «Letters of Note», in der Shaun Usher unachahmlich feinsinnig, akribisch und unterhaltsam Briefe vorstellt, die eine breite Leserschaft verdienen. Er ist auch der Herausgeber diverser Brief-Sammelbände, darunter zwei auf Kunstdruckpapier gedruckte Trümmer, die gewiss tödlich wären, wenn Sie sie einem überraschten Einbrecher an den Kopf würfen und die zu kaufen ich Ihnen wärmstens ans Herz lege. Die Bücher sind auch in deutscher Übersetzung erhältlich. Ich ziehe aber die Originalfassung vor und habe die Texte daher hier für Sie übersetzt. Dabei habe ich mir alle Mühe gegeben, den «Schwung», den ich beim Lesen der Urtexte gespürt habe, in meine deutsche Version hinüberzuretten. Manche typisch englische Formulierung, deren wortgetreues Pendant fremdartig klang oder die Melodie des Originals zerstörte, habe ich so lange umgeschrieben, bis sie für meine deutschen Ohren so klang, wie das Original für englische Ohren geklungen haben mag.
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Danke.
Das wars für heute.
Herzliche Grüsse
Matthias Wiemeyer