Auch ich habe das Passiv oft zum Teufel gejagt. Doch als ich in den Sommerferien meine dicken Schweisserhandschuhe anzog, um die Brombeeren unter unserem Boskop-Baum zu roden, kroch Zweifel in mir hoch − ein Spinoza-Zitat:
Jede Erscheinung …

…beweist ihre Notwendigkeit durch ihr Dasein.
Das bedeutet ungefähr: Jedes Ärgernis hat seinen Grund, sonst wäre es nicht (mehr) da.
Also auch: Wenn das Passiv keine besonderen Talente hätte, wäre es längst ausgestorben. So wie die Dinosaurier oder der 2 Meter 50 lange Urzeit-Tausendfüssler Arthropleura, dem vor 300 Millionen Jahren die Luft zu dünn wurde.
Hat auch das Passiv seinen guten Grund? Ist die Passiv-Schelte eine Hetzkampagne?
Ja.
Das Passiv war einst so anmutig, bescheiden und taktvoll wie die Zofe der Queen. Dann haben die Schreibtischtäter es in ihre Amtsstuben gezerrt und tausendfach begrapscht, erniedrigt und ausgenutzt.
Wir dürfen es nicht schelten, wenn es rauchend und fluchend durch die Gänge schwadroniert. Wir sollten ihm eine Zuflucht bieten, ein kultiviertes Asyl, wo es wieder zu sich findet.
Was das Passiv kann
Schauen wir uns ein Beispiel an:
- Aktiv: Peter giesst die Blumen.
Die meisten Aktivsätze sind Varianten von «Wer (Peter) tut was (giesst die Blumen).»
Jetzt bringen wir den Satz in die passive Form:
- Passiv: Die Blumen werden (von Peter) gegossen.
Jetzt hat der Satz das Muster: «Wem (Blumen) geschieht was (gegossen werden).»
Die Blumen werden zur Hauptsache und wandern an den Satzanfang. Der Täter wird zur (entbehrlichen) Nebensache.
Der Wechsel vom Aktiv zum Passiv ist also ein Perspektivwechsel. Der Blick wandert von Peter (dem Täter) zu den Blumen (zu dem, mit dem etwas geschieht, dem «Opfer»). Solche Perspektivwechsel sind ein Segen für die Leseführung und die Dramaturgie guter Geschichten. Das kommt später noch genauer. Für den Moment merken wir uns: Das Passiv schenkt unseren Geschichten eine zweite Kameraposition. Das kann kein Nachteil sein.
Aber vorher interessiert uns noch, warum das Passiv in Verruf geriet.
Mittendrin oder nur dabei?
Keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Der Perspektivwechsel hat seinen Preis. Er verändert auch Tonalität und Tempo des Ausdrucks.
Das Aktiv ist schneller, direkter, energischer, mitreissender und, wen wunderts, aktiver als das Passiv. Wenn wir lesen, was Peter tut, stellen wir uns vor, wir täten es. Wir halten das Gewicht der Kanne im Arm, kleckern einen Schwall Wasser auf unsere Stiefel und staunen den Wasserperlen hinterher.
Das Aktiv holt uns mitten ins Geschehen.
Das Passiv ist langsamer, distanzierter, statischer, monotoner und, wen wunderts, passiver als das Aktiv. Wir schauen aus der Ferne zu, was geschieht und interessieren uns vor allem für den Effekt, die Wirkung, das Ergebnis. Die anstrengende Schlepperei, der Schweiss, die ganze Vorgeschichte: belanglos.
Das Passiv zeigt uns (nüchtern) das Ergebnis.
Wer Leser mitreissen will, ist mit dem Passiv schlecht bedient.
Schreibratgeber warnen vor dem Passiv, weil vielen Texten Kraft und Wirkung fehlt. Weil Autoren sich beklagen, dass ihre Leser gelangweilt durch die Zeilen schlurfen und das aufregend Neue, die geniale Idee oder den zündenden Gedanken kaum beachten.
Solchen Texten fehlt die belebende Kraft des aktiven Ausdrucks. Tatsächlich: 9 von 10 Texten steht es gut, das allermeiste Passiv auszurupfen.
Aber ganz ausrotten dürfen wir es nicht. Denn wenn kühl und distanziert für Ihren Text gerade passt oder wenn Sie die zweite Kamera brauchen, sind Sie mit dem Passiv bestens bedient.
Das Passiv hat seinen schlechten Ruf auch wegen schlechter Gesellschaft. Denn die Bürokraten, die gedankenlos zum Passiv greifen, vergehen sich meist auch an Verben (Nominalstil) und Satzbau (Schachtelsätze).
Passiv, Nominalstil und Schachtelsatz.
So klingt Bürokratie: Wurde die Zulassung zur Prüfung wegen Überschreiten der Anmeldefrist verweigert und ist die Überschreitung der Frist in höherer Gewalt begründet, so kann die Zulassung nachträglich gewährt werden, wenn die Gründe für das schuldlose Versäumen der Frist glaubhaft gemacht werden können.
Klartext: Es besteht noch Hoffnung, wenn Sie den Anmeldeschluss verpassen, weil vor Ihnen ein Margarinelaster liegen bleibt. Unbedingt Nummernschild notieren.
Jetzt wissen Sies. Die Bürokraten, Paragrafenreiter und Bedenkenträger in den Amtsstuben haben das Passiv auf dem Gewissen. Es ist zu Unrecht in Verruf geraten.
Doch jetzt zurück zum guten Passiv, zum Passiv im Dienst der Lesefreude.
Hintergrund: Überlebensvorteil Sprache
Die Sprache wurde nicht erfunden *), um Dienstanweisungen oder Doktorarbeiten über «Die Erfahrung der Existenz als eine diskrete Wahrscheinlichkeit der kontinuierlichen Realität. Eine metaphysische Hypothese nach den Schriften von Charles Sanders Peirce» zu schreiben.
Die Sprache ist dazu da, Erfahrungen zu teilen. «Ich habe etwas in der Welt gesehen und jetzt erzähle ich es dir, damit du es dir auch vorstellen kannst.»
Die Sprache ist die evolutionsbiologische Superwaffe der Menschen. Wo die saftigsten Mammuts schlafen, wie man bei Regen ein Feuer in Gang bringt oder welche Pflanze gegen Fieber hilft - das muss ich nicht selbst erforschen. Jemand weiss es schon und hat es weitererzählt, damit wir alle besser leben können. Jeder von uns ist heute tausendmal klüger als er allein hätte werden können. Weil jede Generation ihre Erfahrungen teilt und der Schatz immer reicher wird.
Das mächtigste Format zum Teilen von Erfahrungen ist die Geschichte, die uns mitnimmt und miterleben lässt, als wären wir selbst dabei gewesen. Dafür ist Sprache gemacht. Und genau deshalb hat die Sprache das Passiv an Bord. Weil das Passiv die Geschichten raffinierter macht.
Man kann Sprache auch für Doktorarbeiten benutzen (so wie Sie Ihren Fön benutzen können, um Ihr Badezimmer zu heizen). Aber das ist nicht im Sinne des Erfinders. *)
*) Natürlich hat niemand die Sprache erfunden. Wir haben sie uns gemeinsam eingehandelt. So wie Kapitalismus, Berufsverkehr und Klimawandel. Aber das ist eine andere Geschichte.
Passiv hilft beim Kopfkino
Das Passiv, es klang schon an, wirkt auf Dramaturgie, Leseführung und Tonalität.
Zur Erinnerung: Beim Aktiv «Peter giesst die Blumen.» folgt unsere Vorstellung dem Täter. (Was tut denn da der Peter?). Beim Passiv «Die Blumen werden gegossen.» schauen wir auf die Blumen und Peter ist uns egal. (Was geschieht denn da mit den Blumen?).
Der Perspektivwechsel lenkt also den Blick des Lesers. So wie Steven Spielberg Schwenks und Schnitte einsetzt, um dem Pulsschlag der Geschichte hinterherzuspringen, wechseln wir mit Aktiv und Passiv die Erzählperspektive, um den Blick des Lesers auf Kurs zu halten.
Ich spinne die Sätze vom Anfang nun zu zwei kurzen Geschichten weiter. Die erste beginnt aktiv, die zweite passiv.
Geschichte1 – aktiver Einstieg:
Peter giesst die Blumen. Zweiundzwanzig Giesskannen schleppt er vom Wasserhahn zu den zweiundzwanzig Blumenkübeln hinter dem Haus. Zweiundzwanzig mal auffüllen, hintragen, ausgiessen und zurücklaufen. Dafür braucht er mindestens eine halbe Stunde. Er ist also sicher noch im Garten, als vor dem Haus die Schüsse fallen.
Hier geht es um Peter und sein Alibi. Ob er Blumen giesst oder Reitstiefel poliert ist unwichtig. Wichtig ist nur: Er war zu beschäftigt, um als Täter in Frage zu kommen.
Ein klarer Fall für das Aktiv, weil Peter dann am Anfang des Satzes steht. Und aus Erfahrung wissen alle Leser: Was am Anfang steht, ist das Wichtigste.
Denn im Deutschen bauen wir die Sätze meist von links nach rechts. Am Anfang die Hauptsache, dazwischen interessantes Kleingemüse und am Schluss die Aktion. Dieses wiederkehrende Muster hat unsere Art zu lesen und zuzuhören geprägt. Wenn ein Schreiber solche Lesegewohnheiten klug bedient, finden die Leser: «Das geht ganz geschmeidig ins Hirn.»
Die nächste Geschichte spielt in gleicher Besetzung, ist aber weniger dramatisch. Hier sind die Blumen die Hauptsache und Peter könnte genauso gut Klaus oder Gabi heissen.
Geschichte 2 – passiver Einstieg:
Die Blumen wurden täglich gegossen. Zweimal täglich wäre besser gewesen. Dahlien, Rosen, Tulpen und Narzissen liessen die Köpfe hängen, als Peter aus den Ferien zurückkam.
Auch hier geht es ums Blumengiessen. Aber weil jetzt die Blumen die Hauptsache sind, kommen sie auf die Pole-Position am Satzanfang. Damit der Leser gleicht merkt: «Aha. Es geht um die Blumen. Schade, jetzt sind sie hin.»
Hier ist das Passiv ideal, weil es den Täter verschweigt und die ungeteilte Aufmerksamkeit, wie gewünscht, auf die welken Blüten lenkt.
Politisch korrekt
Das Passiv hat auch sonst noch Glanzstunden. Wenn ein Text geschlechtsneutral formuliert werden soll, lässt man die handelnden Personen einfach weg. Das kann viel eleganter klingen als Gendersternchen, Doppelnennung, Alternieren oder das Verschandeln des Partizips (denn schlafende Schüler bleiben Schüler aber schlafende Lernende sind nur noch Schlafende, weil sie beim Schlafen nichts lernen).
- Aktiv: Nach ausführlicher Diskussion entscheiden die Bürgerinnen und Bürger, entlang der Durchgangsstrasse eine Lärmschutzwand zu errichten.
- Passiv: Nach ausführlicher Diskussion wurde entschieden, entlang der Durchgangsstrasse eine Lärmschutzwand zu errichten.
Trotzdem: Schreiben Sie aktiv.
Das Passiv kann ein paar Sachen, die dem Aktiv nicht gelingen. Das war heute unser Thema. Trotzdem: In den meisten Texten kommt zu viel Passiv vor. Die häufigsten Gründe:
- Der Täter will sich unsichtbar machen, um von eigenen Schwächen abzulenken. «Es wurden Fehler gemacht.» So tönt ein Vorstand, der sich vor Verantwortung drückt.
- In akademischen Texten wird die Ich-Form zwanghaft gemieden. Die Wahrheit «Ich habe 285 Probanden befragt.» gilt als unwissenschaftlich. Daher schreiben alle: «Es wurden 285 Probanden befragt.» Obwohl mit dem Passiv eine wichtige Information verloren geht. Denn jetzt bleibt im Dunklen, ob die Probanden vom Autor der Studie oder vom chinesischen Geheimdienst befragt wurden. Ein Unterschied, der einen Unterschied macht.
- Viele Amtsstuben pflegen immer noch das altmodische Kontordeutsch. Das Kontordeutsch liebt das Passiv, weil es den Täter verschweigt. Wenn Ferdinand einen Brief verfasst, in dem er als Beamter für seine Behörde spricht, soll es nicht wie eine private Meinung klingen, sondern amtlich. Und wenn er einen Antrag ablehnen muss, ist es ihm sowieso lieber, sich hinter den Vorschriften zu verstecken.
- Aus Unachtsamkeit: Weil wir dauernd Passiv lesen, ist der Klang uns so vertraut, dass er uns beim Schreiben sofort in den Sinn kommt.
- Das Aktiv ist die lebhaftere Perspektive. Weil es dem Täter folgt und mit dem Fluss der Handlung geht. Daher tönt es lebendiger, persönlicher und unterhaltsamer als das nüchtern-distanzierte Passiv.
Aber manchmal, wenn es wirklich passt, greifen Sie unbeschwert zum Passiv. Denn wo es hingehört, ist es das Beste, was Ihrem Text passieren kann.
Übrigens: Das entscheidende am Passiv ist nicht das Wörtchen «wurde», sondern der Wechsel der Perspektive. So ein Perspektivwechsel gelingt auch mit Formen wie:
- Aktiv: Sie haben zwingend alle Vorschriften des Arbeitsschutzes einzuhalten.
- Ersatzpassiv: Alle Vorschriften zum Arbeitsschutz sind zwingend einzuhalten.
Die aktive Variante tönt nach Befehl. Die Variante mit dem Ersatzpassiv ist zwar genauso strikt, tönt aber etwas verbindlicher, weil sie den Leser nicht persönlich anspricht. Er fühlt sich nicht so schikaniert und murrt weniger.
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Danke.
Das wars für heute.
Herzliche Grüsse
Matthias Wiemeyer