Zum Einstieg lesen Sie bitte den (anonymisierten, aber weitgehend unveränderten) Brief. Ich habe Firmennamen, Branche und Logo geändert und zwei verräterische Wörter im Text ausgetauscht – damit sich niemand vorgeführt fühlt. Und dann habe ich noch ein paar Nummern hineinmontiert, damit Sie wissen, worauf sich meine Kommentare beziehen. Aber der Text ist zu 99 % unverändert:
Es ist erstaunlich, dass der Brief noch lesbar ist, obwohl er in einen völlig anderen Kontext versetzt wurde. Darin liegt auch seine grösste Schwäche: Er reiht lauter Allgemeinplätze aneinander, die überall ein bisschen passen und nirgendwo so richtig krachen.
Schlechte Vorstellung
Gute Texte bringen einen originellen Gedanken präzise auf den Punkt. Diesem Brief fehlt beides: Ein origineller Gedanke und die gekonnte Zuspitzung, die uns Appetit macht, das Magazin zu lesen.
So wie er ist, schadet der Brief mehr als er nützt.
Seine wichtigste Aufgabe wäre wohl gewesen, die Empfänger zum Lesen des Heftchens zu animieren. Eines Heftchens, das auf Kunstdruckpapier durchgehend 4-farbig gedruckt wurde und den Absender eine Stange Geld gekostet hat.
Seinen Auftrag hat der Brief total verfehlt. Wer ihn überfliegt, erwartet vom Magazin auch nur Plattitüden und wirft es ungelesen zum Altpapier.
Wäre das Heftchen ohne Anschreiben gekommen, hätte es eine Chance gehabt: Ich hätte hineinblättern müssen, um mir ein Bild zu machen. Mit Brief ahne ich auch ohne blättern: alles bloss Reklame.
Wir merken uns jedenfalls: **Die wichtigste Zutat eines lesenswerten Briefes sind interessante Inhalte. **Die hat dieser Text aber nicht zu bieten. Sehen Sie selbst nach: Ausser allgemeinem Veränderungsgeschwurbel und Heraklits ungefährem Alter erfahren wir nichts.
Die 9 Verfehlungen
Ich habe das Sündenregister dieses Textes mit orangen Zahlen nummeriert. Die gehen wir nun Zeile für Zeile durch:
- Die Betreffzeile ist eine verpasste Chance. Wir erfahren nichts Neues. Sobald ich den Umschlag geöffnet hatte, war ja klar: Aha, ein Brief und ein Magazin.
Die Betreffzeile soll nicht das Offensichtliche benennen. Sie soll Neugierde wecken. Durch einen Hinweis auf etwas Interessantes, das wir sonst nicht gewusst hätten. Sie könnte auf ein Gewinnspiel im Heft hinweisen, einen Artikel aus dem Magazin anreissen oder eine Probefahrt anbieten. Was auch immer. Bloss nicht das Offensichtliche. - Ein Zitat zu Beginn ist meistens peinlich. Lesen Sie den Anfang noch einmal durch und hören Sie in sich hinein: Berührt Sie dieser Einstieg? Ich habe ihn als Verlegenheitslösung empfunden. Vor 50 Jahren hätte man von einem solchen Zitat noch auf die Bildung des Autors geschlossen. Heute weiss jeder, dass man mit Google in 3 Sekunden 100 flotte Sprüche findet.
Und wenn es unbedingt ein Zitat sein muss (muss es nie), dann stellen Sie es wenigstens in einen originellen Kontext oder fügen Sie ein ausgefallenes Detail hinzu, das noch nicht jeder kennt. Zum Beispiel, dass Heraklit im Alter seine Wassersucht mit Kuhmist kurieren wollte. Aber wie Sie von da die Kurve zum Magazin kriegen, weiss ich auch nicht. Sie sehen: Ohne Zitat ist besser. - Der Ausdruck «hat bis heute Gültigkeit» ist Nominalstil – der Schreibstil der Wichtigtuer. Warum nicht «gilt bis heute»? Warum überhaupt das Selbstverständliche erklären? Ein Zitat, das heute nicht mehr gilt, hat in Ihrem Text nichts verloren.
- Schon folgt die nächste Nominalisierung (unterliegt einem kontinuierlichen Wandel). Das ist wieder schlecht geschrieben und neben der Sache. Denn gefürchtet ist der Wandel, weil er gerade nicht kontinuierlich, nicht stetig, nicht vorhersehbar verläuft. Der Wandel stresst uns, weil er abrupt, überraschend, stossweise kommt; dass einem ganz schwindelig wird und man vergisst, wo vorne und hinten ist. Aber so genau hat niemand nachgedacht; zumal schon die nächste Plattitüde auf die Bühne drängt.
- Auch unser Geschäft kann sich dem Wandel «nicht entziehen». Wo kämen wir denn da hin? Erst so lange Anlauf nehmen, mit Heraklit und allem, und dann beim Wandel gar nicht mitmachen. Nein, das geht wirklich nicht.
«Alles ändert sich und wir stecken mittendrin.» So hätte man den Inhalt des ersten Absatzes stimmig auf den Punkt bringen können. Mit 7 statt 33 Wörtern. - Der Betreff, wir erinnern uns, enthielt schon nichts Neues. Und weil das oben so gut geklappt hat, kommt es hier noch einmal. Das Offensichtliche schon wieder nachgedoppelt.
- Dann wird uns etwas aufgezeigt. Das könnte interessant werden. Bekommen wir vielleicht einen Vorgeschmack serviert, was uns im Heft erwartet?
Leider nein. Wieder nur Allgemeinplätze. Das Unternehmen nutzt das veränderte Umfeld, um für mich noch besser zu werden. Extra für mich. Aber wie dieses Umfeld aussieht und was zu meinem Vorteil unternommen wird – das bleibt finster.
So finster womöglich wie Heraklit, den seine Zeitgenossen den «Dunklen» nannten, weil seine Lehre so rätselhaft war. - Bis hierher lesen die wenigsten. Und wer durchgehalten hat, will jetzt nichts mehr herausfinden.
Da hilft es auch nicht, dass dem Appell ein Ausrufezeichen ans Heck genagelt wird. Ein fusskranker Satz läuft mit Ausrufezeichen auch nicht schneller. Wo Sie ein Ausrufezeichen brauchen, brauchen Sie in Wahrheit einen starken Satz. Der braucht dann kein Ausrufezeichen mehr. Wir merken uns: Für einen Satz, der ein Ausrufezeichen braucht, kommt jede Hilfe zu spät. - Ein weiterer Verlegenheitssatz zum Abschluss. Schade.
Das Gute des Schlechten
So viel zur Analyse des Briefes. Als schlechtes Beispiel ist er wunderbar, weil er auf den ersten Blick so unauffällig ist. Er hat keine Rechtschreibe- oder Grammatikfehler und ist auch formal auf der Höhe der Zeit. Aber er hat keine Botschaft, bezieht keine Position, verwickelt uns in kein Abenteuer.
Es besteht aus Nominalisierungen, einem abgegriffenen Zitat und diffusem Gerede über Veränderungen. Nur wer den Text aufmerksam liest, merkt, dass er ohne Inhalt ist.
Dann, so könnten Sie sagen, sei ja alles nicht so schlimm.
Doch.
Gute Texte suchen das Kostbare: Die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers.
Wie soll ein Text diese Aufgabe erfüllen, wenn er keinen Inhalt hat? Und selbst wenn er beachtet wird – warum nutzt er die Aufmerksamkeit nicht, um eine Botschaft zu platzieren?
Wie kann das passieren?
Dieses Mailing eines börsennotierten Konzerns muss ein kleines Vermögen gekostet haben. Zu den direkten Ausgaben für Druck und Versand kommen Gehälter und Büros einer Handvoll Mitarbeiter, die ausschliesslich mit der Produktion solcher Magazine beschäftigt sind. Wie kann es sein, dass diesen (tüchtigen) Leuten so etwas passiert?
Schuld ist wohl der Autopilot. Lesen und Schreiben sind keine Knobeleien, bei denen wir die Stirn in Falten legen und Ruhe verlangen. Wir können einen unauffälligen Text schreiben, ohne nachzudenken. Und wir können ihn im Halbschlaf durchlesen, ohne seine Leere zu bemerken. So mechanisch, wie wir manchmal Auto fahren und uns dann wundern, wie wir nach Hause gekommen sind.
Auch Marketingabteilungen sind keine Ausnahme. Und deren Chefs kommen nicht auf die Idee, dass für Kunden nur gut genug ist, was auch ihre Aufmerksamkeit fesselt. Blasse Inhalte schonen sogar die Nerven. Eine markante Position müsste man verteidigen. Aber das unverbindliche Geschwafel bleibt unter der Aufmerksamkeitsschwelle derer, die etwas zu sagen hätten.
Besser machen
Versuchen Sie gar nicht erst, einen solchen Text zu flicken, bevor Sie sich** ein paar interessante Inhalte** besorgt haben. Einem Verhungernden müssen Sie Essen bringen. Das ist die einzige Therapie. Und die Leere dieses Textes müssen Sie mit interessanten Gedanken füllen. Das ist die einzige Therapie.
Weil der Brief nichts Interessantes enthält, musste ich mir etwas Passendes ausdenken. Ich nahm also an, die erwähnte Neuentwicklung sei ein Sicherheitssystem für Autos, das Spurkontrolle, Abstandswarnung, Tempomat, GPS und Hi-Fi-Anlage miteinander koppelt. Das System warnt, wenn müde Fahrer von der Spur abkommen, bremst ab, wenn sie zu nah auffahren und markiert die erlaubte Höchstgeschwindigkeit mit einem akustischen Signal. Einer britischen Studie zufolge könnte Securo jedes Jahr tausende Unfälle verhindern und dutzende Menschenleben retten.
Das ist doch schon mal etwas. Mit diesen Fakten machen wir aus dem nichtssagenden Floskelfriedhof einen spannenden Text.
Gegenvorschlag
Wenn Sie jetzt einen Text erwarten, der dem Original noch ähnelt, werden Sie enttäuscht. Die leeren Sätze mussten weg und danach war nichts mehr übrig:
- Die Betreffzeile bringt auf den Punkt, worum es bei Securo geht.
Die Betreffzeile muss sitzen. Sie wird direkt nach der Adresse gelesen. Eine schwache Betreffzeile macht aus Ihrem Schreiben Altpapier.
- In vielen Briefen würde hier «Mitarbeitende» oder «Mitarbeiter/innen» oder «Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter» stehen.
Mein Stilempfinden sträubt sich gegen diese Formen. Die sprachliche Gleichstellung ist eine honorige Forderung. Aber sie erzeugt stilistische Fremdkörper. So spricht niemand. Nicht auf der Strasse, nicht in Schlagertexten, nicht in Büchern und nicht in Filmen. Solange das so ist, schwächen die geschlechtsneutralen Formen Ihre Texte. Sie klingen etwas angestrengt, ideologisch verkrampft und bürokratisch. Die Motive der sprachlichen Gleichstellung unterschreibe ich sofort. Aber wer einen Text mit maximaler Wirkung will, muss den Leuten aufs Maul schauen.
- Ein Wortspiel macht anschaulich, worum es geht. Ganz ohne Risiko ist es nicht, weil es auch viele schlechte Beifahrer gibt. Mir fiel auch «Schutzengel» ein, aber «Beifahrer» klang in meinen Ohren handfester und zuverlässiger.
- Hier und da eine konkrete Zahl – das macht Ihre Aussagen glaubwürdig. Ich hätte auch schreiben können: «Viele unserer Kunden fahren nie mehr ohne.» Aber manche Leser misstrauen so unscharfen Sätzen. Weil sie erleben mussten, dass «freundlicher Kundendienst» in Wahrheit «ungarisches Callcenter» bedeutet und «verkehrsgünstige Lage» «direkt an der Autobahn». Daher sollten Sie auf Fakten setzen, wenn Sie Ihre Geschichte verkaufen wollen. Der Leser denkt dann: Wer «93%» sagt, muss Belege haben, die ich nachprüfen könnte. Eine Lüge würde auffliegen und dieses Risiko wird die PKW AG nicht eingehen. Ausserdem: Zwischen vielen Wörtern ist eine in Ziffern geschriebene Zahl typografisch auffällig. Und weil Zahlen oft interessante Informationen liefern, werden sie stark beachtet.
- Ein herrlich trockener Abschluss. Die wenigsten Briefe enden so abrupt nach einer starken Aussage.
9 von 10 Schreibern würden etwas anhängen. Zum Beispiel: «Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.» Weil die Leser an Schlussfloskeln gewöhnt sind, baut ihr Fehlen Spannung auf. Und Spannung erhöht die Chance, dass das Magazin gelesen wird.
- Zu diesem Absender passt eine autobezogene Grussformel.
Das Original trug zwei Unterschriften. Dieser Brief nur eine. Zwei Unterschriften zwingen zu unpersönlicher Sprache. Sie passen zu rechtlich bindenden Dokumenten. Hier ist eine Unterschrift besser. Die Absenderin kann Persönlichkeit zeigen und Nähe zum Empfänger schaffen. Dazu passt auch, dass sie ihren Vornamen herzeigt. Auch die Signatur ist kürzer. Dass der Brief von der PKW AG kommt, ergibt sich aus dem Briefkopf.
Auch Sie können so schreiben, dass Ihre Post gelesen wird. Auf stilistische Raffinesse kommt es dabei gar nicht an. Entscheidend ist, dass Sie etwas zu sagen haben und Persönlichkeit zeigen. Dann nehme ich mir gerne Zeit für Ihren Text.
Zum Beweis: Als meine Tochter Julia geboren wurde, bekamen wir viele Glückwunschschreiben. Aber das einzige, das mir bis heute in Erinnerung geblieben ist, kam von der 6-jährigen Aline. Es war nicht einmal an die Eltern gerichtet, sondern an die grossen Schwestern der frisch geborenen Julia. Trotzdem hat es unser Herz erwärmt wie kein anderer Brief:
Das hat Ihnen auch gefallen. Stimmts?
Weil der Brief echt ist, weil wir Aline ihre Freude glauben und weil sie uns nicht mit Floskeln abgespeist hat. Und weil das einfach herzig ist. Natürlich.
Sie müssen trotzdem auf korrekte Rechtschreibung achten und auf goldene Herzchen verzichten. Aber Sie dürfen sich trauen, Ihren eigenen O-Ton in Ihrer Korrespondenz anzuschlagen. Einen Ton, der Ihre Persönlichkeit zeigt. Das ist viel wichtiger als stilistische Spitzfindigkeiten in Wortwahl und Satzbau. Altmeister Wolf Schneider empfiehlt: «Schreibe, wie du sprichst. Nur sorgfältiger.»
In gesprochener Sprache bleiben Sätze manchmal unvollendet oder werden dreimal neu begonnen. Endungen werden verschluckt und grammatische Fehler gehen unbemerkt im Sprachfluss unter. Aber in geschriebenen Texten würden sie stören. Das ist mit «nur sorgfältiger» gemeint. Dass Sie das, was Sie sagen würden, druckreif machen. Ein guter Satz ist einer, den Sie auch sagen könnten. Und ein Satz, den keiner über die Lippen brächte, gehört auch nicht in Ihre Briefe.
Übungsaufgabe
Und jetzt schreiben Sie einen Brief, den ich fast genauso gerne lese, wie den von Aline. Nur ist Ihr Thema etwas spröder. Aber Sie sind ja auch schon gross.
Damit Ihre Kreativität in Schwung kommt, soll «Securo» dieses Mal für etwas Anderes stehen. Stellen wir uns vor, Securo sei ein Rettungssystem für Senioren. Es besteht aus Bewegungsmeldern und einem kleinen Armbandsender. Das System lernt den Lebensrhythmus eines Menschen und kennt die Merkmale gefährlicher Situationen. Wenn zur gewohnten Stunde niemand in der Küche frühstückt oder jemand nach einem Sturz regungslos liegen bleibt, blinkt, vibriert und piepst das Armband. Ein Knopfdruck auf den Armband-Sender heisst: Alles in Ordnung. Ich brauche keine Hilfe. Bleibt der Knopfdruck aus, werden Angehörige verständigt.
Sie dürfen sich gerne auch ein anderes Produkt ausdenken oder weitere Details dazuerfinden. Wichtig ist, dass Sie etwas Konkretes vor Augen haben und dieses Produkt in Ihrem Brief zur Geltung bringen.
Zu guter Letzt: Helfen Sie uns und teilen Sie diesen Artikel in den sozialen Medien oder per E-Mail. Wir haben kaum Budget für Werbung und sind auf Empfehlungen angewiesen.
Danke.
Das wars für heute.
Herzliche Grüsse
Matthias Wiemeyer