Schnallen Sie sich an. Hier kommt die Lösung.
Derart flaue Texte leiden fast immer an derselben Krankheit: Sie sind zu abstrakt und zu fürsorglich geschrieben. Sie legen dem Leser ein fertiges Gedankenmodell vor, das er benutzen kann, ohne sich anzustrengen, die eigene Fantasie zu bemühen oder das Risiko von Missverständnissen zu erleiden. Sie sind idiotensicher und daher für intelligente Menschen langweilig.
Aber warum finden andere das Thema langweilig, das Sie so spannend finden?
Sie selbst haben sich für das Thema begeistert, während Sie es sich erarbeiten mussten. Sie mussten graben, um Antworten freizulegen, sich die Schweissperlen von der Stirn wischen, Probleme lösen, um weiterzukommen. Und dann kam der krönende Moment: Das unerwartete Glück einer neuen Einsicht.
Ihr Verstand lebt für solche Momente. Er will sich mit allen Sinnen ins nächste Abenteuer stürzen, sich nass und dreckig machen, über Zäune klettern, aus der Puste kommen und dann die neuen Schätze nach Hause tragen, heiss duschen, in frische Kleider schlüpfen und den neuen Reichtum bestaunen.
Er will nicht hören: «Ich habe im Jeep die Wüste durchquert. Wegen guter Planung und einem Quäntchen Glück hat alles prima geklappt.»
Er will den verbeulten 1992er Mitsubishi-Jeep sehen, den Sand auf der Zunge spüren und den klirrend kalten Nachthimmel vor Augen haben. Prima, dass am Ende alles gut gegangen ist. Aber bitte – bitte lassen Sie ihn erst einmal leiden, damit er am Ende den Triumph spüren kann, den Sie erlebt haben.
Genau darum geht es beim anschaulichen Schreiben. Anschauliche Texte nehmen ihre Leser mit und zeigen ihnen, was läuft. Damit sie selbst sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen können, worum es geht. «Show, don’t tell» nennen das die Engländer. Und Asta Nielsen zeigt Ihnen heute, wie das geht.
Ein Beispiel:
«Sie feierten bis tief in die Nacht.»
Dieser Satz passt in einen Bericht, in dem Sie die Fakten nüchtern aneinanderreihen. Für eine engagierte Reportage oder einen Roman ist er zu blass. Klemmen Sie sich Ihre Leser unter den Arm; schleichen Sie zum Hintereingang und zeigen Sie, was Sie sehen:
«Auf den Tischen türmen sich Teller und Schüsseln. Dazwischen dutzende Humpen. Die meisten leer, manche umgestossen, in seichten Pfützen dümpelnd. Bierselig grölende Männerstimmen lassen die Scheiben in den Fenstern klirren und sind noch hinten im Tal als fernes Rumoren zu hören.»
So ein Text wirft uns mitten ins Geschehen und gibt uns das Gefühl, dabei zu sein. Viele Autoren servieren ihren Lesern nur ein laues Fazit, statt sie ins bunte Treiben mitzunehmen. Die pralle Vielfalt, die saftigen Details, der derbe Geruch – all das kommt nicht zur Sprache. Schade.
Anschauliche Sprache ist das wichtigste Stilmittel für spannende Texte:
- Sie braucht Raum
- Sie verlangsamt den Text
- Sie erzeugt Atmosphäre
- Sie gibt Ihren Schlüsselszenen mehr Gewicht
Daher darf sie nicht das einzige Stilmittel sein. Erst im Wechsel mit schnelleren, knapperen und abstrakteren Erzählweisen entfaltet sie ihre ganze Kraft.
Der Alltag verlangt meist nüchterne Texte. So verkümmert das Talent für anschauliches Schreiben.
Von Asta Nielsen lernen
Asta Nielsen – den Namen kennen nur wenige. Das Gesicht zumindest einige. Sie war der grösste Star des Stummfilms. Von 1910 bis 1927 spielte sie in knapp 60 Filmen mit. Mit der Erfindung des Tonfilms endete ihre Karriere.
Warum Sie von ihr lernen können?
Weil sie die Meisterin des «Show, don’t tell» war. Im Stummfilm muss alles Wichtige szenisch dargestellt werden. Man kann nicht Statisten Worte wie «Da wird ausschweifend gefeiert» in den Mund legen. Der Stummfilm-Zuschauer muss selbst zu dem Schluss kommen, dass die Szene genau diese Bedeutung hat.
Wer schreibt, hat jede Menge Text zur Verfügung. Da streut man ein paar markige Adjektive über den Text und drückt jeder Szene die Bedeutung auf, die gerade gebraucht wird.
So geschieht es auch in schlechten Tonfilmen: Wenn dem Drehbuchautor die Ideen ausgehen, flickt er den Plot mit einem Telefonat, in dem er das in Worte fasst, wofür ihm keine Bilder eingefallen sind.
Das können Sie besser.
Stellen Sie sich vor, Sie wären der Regisseur in einem Asta-Nielsen-Film. Sie müssen Bilder mit maximaler Kraft erfinden, um die Dramatik des Geschehens auszudrücken.
Kino im Kopf
Solche Bilder können Sie nur filmen, wenn Sie den Requisiteuren, Schauspielern und Special-Effects-Leuten genaue Anweisungen geben:
- In welcher Kulisse spielt die Szene?
- Was sehen wir, wenn wir die Totale zeigen?
- Wer steht wo, in welcher Haltung, mit welcher Mimik?
- Wie sind die Personen gekleidet?
- Was tun sie gerade?
- Wie ist der Ablauf? Wie ist das Tempo?
- Welche Details wollen Sie in Nahaufnahme zeigen?
- Welche Gerüche, Klänge, Farben, Gefühle sind wichtig?
Kurzum: Malen Sie sich die Szene so facettenreich wie möglich aus. Sodass Sie ein Drehbuch mit ganz exakten Anweisungen für alle Akteure schreiben könnten und das Bild für sich spräche.
Und wenn Sie das vor Augen haben, beschreiben Sie es.
Beschreiben Sie nicht, was die Szene bedeutet, sondern was der Leser sehen, hören, schmecken soll, um sich vorzustellen, was Sie sich vorgestellt haben.
Anschaulich schreiben: 8 konkrete Tipps
Das Asta Nielsen Experiment zeigt Ihnen, wie Sie zu Ideen kommen, den Requisiten, Gerüchen, Klängen, die Sie für Ihre anschauliche Schreibe b:rauchen. Wenn Sie einen matten Text zum Leuchten bringen wollen, halten Sie sich an die folgenden 8 Tipps:
1. Vom Stummfilm lernen
Stellen Sie sich vor, Sie müssten einen Stummfilm drehen. Was zeigen Sie, damit das Publikum sieht, was Sie sehen? Gehen Sie die folgende Liste durch und nehmen Sie sich Zeit. Keiner sagt, dass Ihnen auf Anhieb ein Dutzend tolle Ideen kommen wird. Aber wenn Sie dranbleiben – dann klappts. (Guten Texten merkt man nicht an, wie viel Arbeit sie gemacht haben, bis sie locker und lässig klangen. Das darf Sie nicht täuschen. Qualität braucht 90 % Schweiss und 10 % Talent.)
Machen Sie sich Geddanken zu:
- Kulisse
- Haltung, Mimik, Kleidung
- Ablauf, Tempo
- Charakteristische Details
- Gerüchen, Klängen, Farben, Gefühlen
2. Dialog / Rede
Dialoge haben zwei Dimensionen: Das Thema und die Sprecher. Ein guter Dialog liefert Informationen und macht die Figuren durch ihre Sprechweise lebendig.
Es reicht also nicht, dass Sie sich überlegen, welche Informationen der Dialog vermitteln soll (Einbrecher A weist Einbrecher B darauf hin, dass die Polizei naht). Überlegen Sie sich, in welcher Lage die Akteure stecken und wie ihre Persönlichkeit ihre Sprechweise färbt. Stellen Sie sich in ihre Schuhe und schreiben Sie dann genau so, wie es zu Person und Situation passt.
«Scheisse!» «Was?» «Die Bullen!» «Nein!» «Doch!» «Scheisse!»
3. Alle Sinne ansprechen
Je mehr Sinne Sie ansprechen, desto lebensechter wirkt die Situation. Für Auge und Ohr schreiben viele. Schreiben Sie auch für andere Sinne. Holen Sie sich dafür bei Tipp Nr. 1 ein paar Anregungen. Dort habe Sie ein Filmset entwickelt. Das spricht verschiedene Sinne an. Wie genau spricht es welche Sinne an? Und bitte: Schreiben Sie konkret, aus der Sicht dessen, der es erlebt, nicht aus der Sicht des allwissenden Erzählers, der ein knappes Resümee zieht.
Statt: «Er war nervös und ausserdem war es heiss und stickig in dem Raum.» Lieber: «Er begann zu schwitzen und löste mit fahrigen Fingern den Kragenknopf. Bohnerwachs und Aktenmuff lagen in der Luft.»
4. Ursachen und Folgen Beschreiben
Beschreiben Sie Ursachen, Folgen und Abläufe, statt die Sache direkt zu benennen. Im Stummfilm blenden Sie ja auch nicht einfach eine Tafel ein: «Er freut sich auf das Candlelight-Dinner mit seiner neuen Flamme.» Sie zeigen, wie er die Wohnung putzt, das gute Geschirr hervorholt, die Weingläser poliert, den Kravattenknoten zurechtzupft, die Kerze anzündet und dauernd auf die Uhr sieht.
«So streng war der Winter, dass die Schindelnägel auf den Dächern krachten, die Vögel im Schlaf von den Bäumen fielen und die Rehe verwirrt bis in die Dörfer kamen.»
5. Das treffende Wort
Es gibt viele unscharfe Allerweltswörter ohne Strahlkraft. Meiden Sie sie. Nehmen Sie das treffende, konkrete, markante Wort. Auch das braucht Übung. Legen Sie sich ein Synonymwörterbuch zu oder benutzen Sie einen Online-Thesaurus.
Baum – Akazie
Kind – Lausbub
Blumen – Margariten
Strasse – Allee
sitzen – hocken
sehen – starren
gross – turmhoch
Lernen Sie Wörter schätzen, die nicht alltäglich, aber doch geläufig sind. (Magd, Humpen, Schwarte, frönen…)
6. Metaphern nutzen
Gut gewählte und originelle Metaphern sind ein Gewinn für Ihren Text. Aber: Besser keine Metapher als eine abgenutzte. «Sie fegte wie ein Wirbelwind durchs Haus.» Das ist vor Urzeiten mal eine frische Metapher gewesen. Aber jetzt ist sie in die Jahre gekommen. Zu oft musste sie herhalten, um laschen Texten Schwung zu geben. Wir sind sie leid.
Erfinden Sie etwas Neues. Und erfinden Sie es gut. Sodass es wie die Faust aufs Auge (oder: «Wie der Zwerg zum Vorgarten») passt.
«Ihre Augen leuchteten wie die Scheiben brennender Irrenhäuser.» (Arno Schmidt über die Hitlerjugend)
7. Adjektive meiden
Adjektive sind oft dürftige Reparaturversuche an schlecht gewählten Wörtern. Und eine verschenkte Chance für anschaulichen Text. Wenn Ihr Wort die Sache noch nicht festnagelt, wenn es keinen Wind in die Segel treibt, dann suchen Sie ein besseres (Tipp 5) oder ersetzen Sie es durch eine konkrete Beschreibung (Tipp 3). Adjektive sollten Ihnen immer verdächtig sein. In 8 von 10 Fällen sind sie keine gute Wahl.
Statt: «Im Raum war schlechte Luft.» Lieber: «Lisa rümpfte die Nase und riss die Fenster auf. »
8. Die Menge macht das Gift
Anschauliche Sprache hebt sich angenehm von fader Massenware ab. Aber nur, wenn Sie nicht übertreiben. Ihre Texte sind kein Brockenhaus, in dem jeder Winkel mit Gerümpel zugestellt ist. Sie sollen Lust machen, sie zu erkunden, die Aufmerksamkeit von einem interessanten Detail zum nächsten führen und zwischendurch Zeit zum Schnaufen lassen.
Anschauliche Sprache ist meist länger (und langsamer) als abstrakte. Erst die Mischung erzeugt lebhafte Dynamik. Zu viele Bilder lenken vom roten Faden ab.
Infografik
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Das wars für heute.
Herzliche Grüsse
Matthias Wiemeyer