Wie König Karl dank Gabi zum grössten Königreich der Welt kam.

Renato Salvi

Draussen zwitscherten die Vögel, die Sonne schien und Gabi blinzelte vorsichtig ins grelle Morgenlicht. Da wurde plötzlich die Zimmertür mit lautem Getöse aufgestossen und König Karl stand im Türrahmen. Im Gesicht ein grosses Grinsen und in den Händen einen noch grösseren Bauplan: „Schau mal was ich hier tolles vorhabe!“ Voller Freude wedelte er mit dem Papier herum. Gabi musste sich zuerst die Augen reiben, bevor sie das Gekritzel auf dem Papier erkennen konnte. „Was sagst du dazu?“, wollte der König von ihr wissen. Gabi konnte auf dem Papier nichts erkennen. Ihre Augen lieferten noch kein scharfes Bild, sie war doch gerade erst erwacht. Darum fragte sie verhalten: „Moderne Kunst?“ „Nein“, sagte der König, „Das Schloss wird grösser. Schau mal!“ Der König legte seinen Plan auf dem Boden aus und begann seinen Vortrag. Gabi verstand nur Wortfetzen wie „gigantisch“ oder „modern“ und „sensationell“. Sie erschrak erst, als der König „die Bäume müssen weg“ sagte. „Was?“ Gabi war entsetzt. Wie konnte der König ihren Wald, der an das Schloss grenzte einfach abholzen wollen. Es war ihr allerliebster Ort. Oft sass sie unter einen Baum und lauschte dem Wind, der durch die Baumkronen tänzelte. „Wieso willst Du den schönen Wald abholzen?“, fragte Gabi panisch. Der König runzelte die Stirn und war verblüfft. „Wald? Diese paar Bäume nennst du Wald?“ Tatsächlich waren es nur vier Bäume. Diese standen aber sehr dicht beisammen und wenn Gabi in der Mitte der Baumgruppe auf dem Rücken lag und in den Himmel schaute, fühlte sie sich als wäre sie im grössten Wald der Welt. Der König lächelte, faltete seinen Plan zusammen und verlies Gabi‘s Zimmer mit den Worten: „Morgenfrüh um 10 Uhr wird gefällt! Ob’s dir gefällt oder nicht!“ Gabi war entsetzt. Sie musste König Karl’s Plan verhindern. Auf der Stelle! Aber zuerst gab’s Frühstück.

Gabi sass am Frühstückstisch, sagte kein Wort und schlang ihr Butterbrot regelrecht hinunter. Der König bemerkte Gabi’s Wut. Er ärgerte sie absichtlich, in dem er immer wieder das Wort „Wald“ beim Reden benutzte. „Möchtest Du noch etwas WALDbeer Konfitüre?“ Gabi reagierte nicht. „Heute kommt noch Onkel WALDemar zu Besuch!“ Gabi kaute schneller und murrte mit vollem Mund: „Es gibt keinen Onkel Waldemar!“ Der König lachte und meinte versöhnlich, dass sie sich doch wegen diesen paar Bäumchen nicht so schrecklich aufregen solle. Der Erweiterungsbau des Schlosses würde sie dann bestimmt auch überzeugen, war sich der König sicher. Er klatschte zweimal in seine Hände und wie aus dem Nichts stand Magier Max am Frühstückstisch. Sein Erscheinen war mit einem lauten Knall und viel Rauch verbunden. Der Knall war so laut, dass Gabi vor Schreck das Butterbrot aus der Hand fiel und der Rauch trieb allen Tränen in die Augen. Als man wieder was sehen konnte, deutete der König wortlos auf seine leere Tasse und schaute den Magier dabei an. Dieser murmelte darauf etwas Unverständliches, kreiste mit beiden Händen über der Tasse und auf einmal war diese wieder voll. Der König nahm die Tasse in die Hand und gönnte sich einen kräftigen Schluck daraus. „Wäääääh! Das ist ja Lebertran!“ Gabi kicherte. Magier Max war erstaunt und entschuldigte sich bei Karl. „Entschuldige, König, ich bin etwas aus der Übung. Früher durfte ich noch richtig grosse Dinge zaubern, heute verlangt ihr von mir nur noch Verpflegungszaubereien. Kaffee, Brötchen, Schnitzel, Salat, Schokokuchen…“ König Karl unterbrach den deprimierten Zauberer. „Ich wollte Kaffee und du zauberst Lebertran. Ich bin sehr froh zauberst du keine grossen Sachen mehr!“ Gabi kritzelte unterdessen etwas auf ihre Papierserviette. Als der Magier sich geknickt vom Tisch entfernte, streckte Gabi ihm heimlich die Serviette zu. Max nahm sie an sich und blickte auf das Geschriebene: „Heute um 18 Uhr im Wald!“ Max nickte Gabi zu und verliess den Raum. „Warum darf Max eigentlich nicht mehr richtig zaubern?“ wollte Gabi wissen. Der König hätte die alte Geschichte am liebsten vergessen, trotzdem begann er zu erzählen: „Da war mal dieser Wettbewerb. Da wurde der schlauste König der ganzen Welt gesucht. Ich habe mich dazu auch angemeldet und Max hatte mich begleitet.“ „Haben alle Könige ihren Magier mitgebracht?“ wollte Gabi wissen. „Nein. Magie war an diesen Wettbewerb strengstens verboten. Ich dachte, wenn ich Max dabei habe kann er mir vielleicht bei einigen Aufgaben behilflich sein.“ Gabi war entsetzt. „Du hast betrogen?“ Karl schüttelte den Kopf, so heftig, dass beinahe die Krone zu Boden fiel. „Betrügen ist das falsche Wort. Ich wollte mich nicht blamieren.“ Der König begann zu erzählen. Man sah es seinem Gesichtsausdruck an, dass er sich nur ungern daran erinnerte. „Ich musste eine Rechenaufgabe lösen. Die Rechnung war auf einer zwei Kilometer langen Holzwand aufgeschrieben. Das war schwer! Max sollte mir mit einem Zauber die richtige Lösung in den Mund zaubern, aber…“ Der König stockte. Offenbar schmerze ihn das Erlebte noch heute. „Und?“ fragte Gabi, sie war neugierig geworden. „Max hat versagt. Statt die richtige Lösung zu sagen furzte ich. Ich stand da mit offenem Mund und furzte! Peinlich!“ Gabi musste das Lachen verkneifen. Fast weinerlich fuhr der König fort: „Seither werde ich von den anderen Königen nicht mehr ernst genommen. Man nennt mich hinter vorgehaltener Hand ‚Dufti‘! Das habe ich alles Max zu verdanken. Darum darf er nichts Grosses mehr zaubern!“ König Karl wurde still und blickte auf die Tasse mit Lebertran. Er atmete einmal tief durch und sagte: „Ach was soll’s!“ In einem Zug stürzte er den Lebertran hinunter. Die Grimasse, die er danach zog, bescherte Gabi den grössten Lachanfall den sie je hatte. Max konnte also doch noch was Grosses zaubern. Eilig stand sie vom Tisch auf und verlies den Raum. Sie musste den anderen unbedingt vom Plan des Königs erzählen.

Kurze Zeit später stand Gabi im Schlosshof. Dort war Zino der Zwerg gerade dabei, Blätter vom Boden aufzulesen. „Was machst du denn da?“ wollte Gabi von Zino wissen. „Gartenarbeit“ erwiderte Zino missmutig. „Du arbeitest doch sonst in der Küche?“ Zino blickte zu Gabi hoch, er klang sauer: „Ja. Max hat mich rausgeschickt. Er will was Gigantisches zum Mittagessen auf den Tisch zaubern. Ich soll draussen Blätter aufsammeln. Ich könnte das am besten. Ein Zwerg muss sich nicht bücken!“ Zino war beleidigt und wütend zugleich. Er mochte es nicht, wenn sich jemand über seine Körpergrösse lustig machte. Gabi tröstete ihn. Sie lud Zino ein, um 18 Uhr auch zum Wäldchen zu kommen und sagte lächelnd zum Zwerg: „Und wenn du mir zum Dank für die Einladung ein Küsschen auf die Wange geben willst: Dort hinten steht eine Leiter…“ Gabi meinte das natürlich nicht ernst. Sie wollte nur sehen wie Zino reagiert. Sie bückte sich zu ihm hinunter und Zino gab ihr schnell ein Küsschen auf die Wange. Dass er danach im ganzen Gesicht rot wie ein Feuerwehrauto war, erwähnte Gabi nicht. Zino fragte neugierig: „Warum treffen wir uns eigentlich um 18 Uhr im Wald?“ Gabi erzählte ihm vom Plan des Königs. „Das darf doch nicht wahr sein?“ Zino war schockiert. Was würde aus seinen Freunden werden? Benno der Baumelf und Wilma die Waldfee wären ohne diesen Wald verloren. „Die leben doch schon immer dort, das darf man ihnen doch nicht wegnehmen!“ Zino wurde erneut rot. Nun aber nicht vor Scham, sondern vor Wut. „Das müssen wir verhindern. Da darf auch ein Zwerg nicht kleinbeigeben“. Zino warf die gesammelten Blätter, die er noch immer in der Hand hielt energisch zu Boden und rannte weg.

Es wurde Abend. Gabi war schon etwas früher im kleinen Wäldchen angekommen. Sie ging von Baum zu Baum und legte ihre Hände auf die Baumrinde und schloss dabei die Augen. Vielleicht würden die Bäume ja zu ihr sprechen. „Hallo“, hörte sie eine leise Stimme sagen. Gabi erschrak. „Du kannst sprechen?“, wollte sie wissen. „Natürlich, was denkst du denn?“ Gabi umarmte den Baum und hauchte: „Frag mich was, bitte!“ Für eine kurze Zeit blieb es mucksmäuschenstill. „Ehm…OK. Warum mussten wir um 18 Uhr hier sein?“ Gabi öffnete die Augen. Die Stimme kam ihr doch bekannt vor. Sie drehte sich um und da stand Benno der Baumelf. Er hatte gesprochen. Neben ihm stand Wilma die Waldfee: „Hallo Gabi“, hauchte sie. Offenbar hat Zino den beiden noch nicht mitgeteilt, dass das Wäldchen abgeholzt werden soll. „Warten wir noch auf Max und Zino und dann erzähle ich euch alles.“ Mit einem Zischen erschien auf einmal der Magier und die dabei entstandene Rauchwolke brachte alle zum Husten. Als letzter kam Zino, er war etwas ausser Atem „Entschuldigung die Verspätung. Kurze Beine…“. Nun begann Gabi allen von den Plänen des Königs zu erzählen. Sie untermalte ihre Ausführungen mit wildem Gefuchtel und machte sogar das Geräusch der Säge nach, wie sie klingen würde, wenn sie die Bäume zersägte. Wilma und Benno waren starr vor Entsetzen. Das war das Schrecklichste, was sie sich hätten vorstellen können. Und noch schrecklicher fanden sie es, dass König Karl auf eine solch abscheuliche Idee kam. Ratlosigkeit machte sich breit und lange sassen alle schweigend da und blickten ins Leere. Man hätte vielleicht mit König Karl sprechen und ihn von seinem Vorhaben abbringen können. Das wäre aber hoffnungslos gewesen. Alle kannten König Karl. Jeder wusste wie stur er war. Wenn er sich mal was vorgenommen hatte würde ihn keiner davon abbringen können. Da plötzlich hatte Zino eine Idee. Er sprang auf, ging zu Gabi und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Gabi war begeistert und jubelte. Sie ging zum Magier hinüber und flüsterte ihm was zu. Dieser machte grosse Augen. „Was?“ Der Magier wurde nervös und schnappte nach Luft. Benno und Wilma schauten sich an: „Kann uns jemand sagen was ihr plant?“ „Noch nicht“, sagte Gabi, „das soll eine Überraschung sein! Kommt morgen früh um 10 Uhr wieder hier her. Dann werdet ihr schon sehen…“ Magier Max begann zu zittern, so nervös wurde er: „10 Uhr? Schon um 10 Uhr! Da muss ich mich sputen!“ Mit einem Knall und noch mehr Rauch war Max verschwunden.

Draussen zwitscherten die Vögel, die Sonne schien und Gabi blinzelte vorsichtig ins grelle Morgenlicht. Es war wieder Tag. Der Tag, an dem der Wald abgeholzt werden sollte. Schlagartig war sie hellwach, zog sich an und eilte hinaus in den Schlosshof. Da stand schon der König mit einer grossen Säge in der Hand. „Ah, da bist du ja. Dachte schon, du willst den grossen Moment verpassen!“ Der König öffnete das Schlosstor, das den Blick auf die vier Bäume frei gab. Doch was war das? Der König traute seinen Augen nicht. Da waren keine Bäume mehr. Da war ein Wald. Ein richtiger Wald. Das mussten über zehntausend Bäume gewesen sein. Dem König wurde es schwindlig. Er stand da, bestaunte den riesigen Wald und die Säge viel ihm zu Boden. Sein Mund ging auf und zu, so als ob er was sagen wollte und er furzte. Wie damals am Wettbewerb. Gabi musste kichern. Auf einmal knallte und rauchte es und der Magier Max stand neben dem königlichen Herrscher. „Da staunst du, was? Ich kann es noch. Ich kann doch noch grosse Dinge zaubern!“ Stolz zeigte Max auf die unendlich vielen Bäume. Der König war entsetzt: „So viele Bäume! Das schaff ich ja nie…“ stammelte der König und Wasser sammelte sich in seinen Augen an. Laut schnaufend kam Zwerg Zino dazu. Er kam wieder etwas zu spät – warum wissen wir – und klopfte dem König auf die Schulter – also genauer gesagt auf die Wade: „Na, da siehst du den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr!“ Hinter einem Baum kamen Benno und Wilma hervor. Sie waren überglücklich. Ihre Freunde hatten den Wald gerettet und man konnte in den Augen der beiden kleine Tränen erkennen, die im Sonnenlicht aufblitzten. Der Einzige, der sich nicht freute war der König: „Grossartig!“ wimmerte er „Und was wird nun aus meinem Schloss-Erweiterungsbau?“ Max nahm den König bei Seite: „Ich hätte da eine Idee König…“

Magier Max erlebte seinen zweiten Frühling und strotzte nur so vor neu gewonnenem Selbstvertrauen. Er zauberte dem König einen Erweiterungsbau hin, der sich sehen lassen konnte. Der Wald wurde mit einer grossen Mauer umschlossen und gehörte fortan zum Schloss. So wurde das Königreich von König Karl zum grössten auf der ganzen Welt, was ihm bei den anderen Herrschern wieder Achtung verschaffte. Zum Schluss gab es noch ein grosses Fest, das die ganze Nacht dauerte. Max der Magier zauberte die leckersten Speisen auf den Tisch und man sang und auch der König war wieder ganz zufrieden. Als Gabi sich müde ins Bett fallen liess hörte sie den Wind, wie er durch die vielen Bäume strich. Für einen kurzen Moment glaubte sie etwas zu hören, dass wie „Danke Gabi“ klang.

ENDE