König Karl und das Märchen in letzter Sekunde

Liebe Kinder. Eigentlich heisst der lange und wirre Titel dieses Märchens „Prinz Baumelf, der Schnuselige, der gegen den Schweinedrachen und seine Mumie kämpft, um Prinzessin Graubart zu retten." Wenn ihr nur wüsstet, warum …

Steven Sutter

König Karl und das Märchen in letzter Sekunde

König Karl träumte diese Nacht ganz flauschig und weich. Zuckersüsse Zuckerwattenträume waren das. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er die ganze Nacht ein Lächeln auf den Lippen gehabt hätte. Aber, ob das so war, das wusste er nicht. Denn er hatte ja geschlafen.

„Hm. Wie könnte ich nur herausfinden, ob ich heute im Schlaf gelächelt habe …“. König Karl dachte scharf darüber nach. Aber nicht lange.

Mit Schwung wurde die Türe aufgerissen und Zino, der Zwerg stürzte aufgebracht ins Schlafzimmer.

„Herr König, Herr König …!“ Zino schnappte nach Luft.

„Ganz langsam, Zino. Ganz langsam.Was ist passiert?“ König Karl versuchte Zino zu beruhigen.

„Aber Herr König, heute ist, … heute ist der 30. Juni!“ Zino war ganz entrüstet.

„Ja, gut. Heute ist der 30. Juni, okay. Du musst keine Angst vor dem 30. Juni haben, Zino. Der 30. Juni beisst nicht.“

„Ich weiss, dass der 30. Juni nicht beisst, Herr König. Aber morgen müssen wir den Kindern das nächste Märchen abliefern.“ Zino holte tief Luft und fügte noch etwas lauter hinzu. „ … und wir haben noch gar kein einziges Wort aufgeschrieben!!!“

Spätestens jetzt war König Karl richtig wach. Er riss seine Augen auf, öffnete seinen Mund, fuchtelte mit den Händen herum und stammelte: „Der …was? .. Der Dreissigste?! Au weia. Die armen Kinder. Alarm, Alarm! Füürio! Alarm! Ruf alle zusammen. In fünf Minuten treffen wir uns alle im Schreibsaal.“

Zino schwirrte los und König Karl schlüpfte aus seinem königlichen, goldenen Pyjama, stürzte sich in seine königliche, purpurne Robe, huschte so schnell er konnte durch die königlichen Gänge das Palastes und krachte dabei beinahe in die Ritterrüstung, die am Eingang des königlichen Schreibsaals stand.

Alle waren rund um den grossen Tisch versammelt. Max, der Magier versuchte sein altes, hartes Morgengipfeli weich zu zaubern. Benno Baumelf polierte seine grüne Baumkrone und hoffte dabei, dass sie irgendwann doch noch goldig glitzern würde. Wilma Waldfee zupfte ihr Blütenkleid zurecht und Gabi, das Glückskind gähnte grosszügig.

„Guten Morgen, meine Untertanen. Guten Morgen. Es ist eine Katastrophe, eine furchtbare Katastrophe …“. König Karl hielt sich die Hände über den Kopf.

„Eine was?“ Gabi das Glückskind kratzte sich am Kopf.

„Eine Katastrophe“, wiederholte Benno Baumelf.

„Ich will auch so eine Katastrophe haben“, forderte Gabi. Naja. Zum Glück hatte Gabi immer Glück. Denn die Klügste war sie nun wirklich nicht.

König Karl deutete allen mit einer Handbewegung, still zu sein.

„Wir dürfen keine Zeit verlieren, liebe Untertanen. Heute ist der 30. Juni und wir haben vergessen, den Kindern ein Märchen abzuliefern.“

„Au weia.“ Wilma Waldfees Blütenkleid welkte leicht. „Wie sollen wir nur in einem Tag ein Märchen schreiben.“

König Karl holte aus dem Regal sein dickes Buch.

„Warum haben wir das nur vergessen? Wer von euch hatte den Auftrag, die Idee für das Märchen bis spätestens 1. Juni abzuliefern?“

Alle schwiegen.

König Karls Blick wanderte durch die Runde, doch jeder wich seinem Blick verlegen aus. Ausser Max, der Magier. Er suchte nach wie vor nach dem Zauberspruch, der Gipfelis frisch machte.

„Ok. Dann werde ich eben im Buch nachsehen, wer verantwortlich war.“

König Karl öffnete das dicke Buch und blätterte.

„Wo haben wir denn hier den letzten Eintrag.“

König Karl leckte seinen linken Zeigefinger, damit er besser blättern konnte. Wilma Waldfee fand das widerlich.

„Aha. Hier ist der letzte Eintrag. Hm. Verantwortlich für die Ideen des nächsten Märchens bis zum 1. Juni war ….“

König Karl las im Buch seinen eigenen Namen und erschrak.

„Also. Hm. Es war. Hm. Es ist … Es ist eigentlich gar nicht so wichtig wer verantwortlich war. Aber ich befehle euch jetzt sofort, Ideen zu haben. Eine Minute habt ihr Zeit, sie aufzuschreiben.“

König Karl schloss das Buch blitzschnell. Max hatte jedoch gerade noch hineingeblinzelt und grinste.

Die Minute war um.

„Schnell, schnell. Dalli, dalli. Ich will jetzt eure Ideen hören. Du beginnst, Zino.“

Zino lächelte gezwungen. „Äh. Ich dachte an so etwas, über Zwerge und so.“

„Zwerge sind langweilig. Der nächste bitte.“

Alle sahen zu Wilma. Wilmas Augen begannen zu blühen. Sie wollte gerade ausholen, um über den grossen Ball der Lilien, der Röslein und Veilchen zu berichten. Doch König Karl ahnte Süsses. Er mochte diese Geschichten nicht, die schon rosa dufteten, bevor er sie aufgetischt kriegte. Er räusperte sich kurz und grummelte wieder: „Der nächste bitte.“

Benno Baumelf, das wusste jeder, hatte die Phantasie einer Schuhschachtel. Er war ja blitzgescheit. Das schon. Er rechnete schneller, als der Blitz blitzen konnte. Aber Geschichten erfinden, das war nicht seine Stärke. Er schaute König Karl nur an und meinte: „Hä?“

Gabi, das Glückskind, ergriff das Wort:

„Ich weiss gar nicht, warum ihr so hetzt. Der Juni hat doch 79 Tage. Das weiss doch jedes Kind.“

König Karl verdrehte die Augen. Seine letzte Hoffnung ruhte wieder einmal auf Max, dem Magier.

Dieser hatte es inzwischen geschafft, sein Croissant frisch zu zaubern und nahm einen grossen Bissen in den Mund.

„Max, du bist an der Reihe.“ König Karl wurde ungeduldig.

„Hmpf. Alfo … einen pfleinen Mompfent, pfittefön.“ Max schluckte runter. „Eine Idee für ein Märchen. Hm.“

Er säuberte mit der Zunge seine Zähne.

„Das ist ganz einfach. Wir verteilen einfach die Rollen und der Rest ergibt sich.“

Gabi Glückskind spurtete ins Badezimmer zum Kasten, öffnete die Türe und kam mit einem Pack WC-
Papier zurück.

„Hast du Durchfall?“ Benno Baumelf schüttelte den Kopf.

„Äh. Nein.“ Gabi war verwirrt und schaute in die Runde.

„Wofür brauchst du WC-Papier?“ König Karl war auch verwirrt.

„Naja. Wegen der Rollenverteilung.“ Gabi Glückskind begann die WC-Rollen zu verteilen.

Benno lachte. „Welches Märchen willst du denn spielen? Vielleicht „Die sieben Zwerge und die heimtückische Magen-Darm-Grippe“?

Alle lachten, ausser Gabi. Und Zino.

„Du hast das sicher gut gemeint, Gabi“, meinte Max, „aber Rollenverteilung heisst, dass wir bestimmen, wer welche Rolle in unserem Märchen spielt.“

Gabi sammelte leicht beschämt alle WC-Rollen wieder ein. Als sie die Letzte greifen wollte, entglitt ihr diese und die Rolle rollte davon und schrie:„Ich will nicht zurück in den Badezimmerkasten. Ich will beim Märchen mitmachen.“

Gabi versuchte, die Rolle einzufangen. Aber die Rolle rollte wie wild um den grossen Tisch herum und rief nur noch lauter: „Ich will auch mitmachen. Hilfe. Ich will doch auch mitmachen.“

„Hat irgendjemand von euch schon ein Märchen gelesen, in dem eine WC-Rolle mitmacht?“, grinste Benno Baumelf.

„Hat irgendjemand von euch schon ein Märchen gelesen, in der eine grüne Krone vorkommt?“, konterte die WC-Rolle ausser Atem.

Darauf wusste Benno keine Antwort.

„Welche Rolle würdest du denn übernehmen wollen?“, fragte König Karl. Seine Pupillen versuchten der Rolle nachzurollen.

„Ich spiele eine Mumie, denn ich habe mich bereits verkleidet und mit WC-Papier eingewickelt“, hechelte die Rolle.

Gabi hielt inne. Man konnte ihr ansehen, dass sie einen Moment brauchte, um diese Gedanken der WC-Rolle nachzuvollziehen. Doch kaum hatte sie es gerafft, lachte sie sich den Buckel voll: „WC-Rolle … Mumie … schon bereits mit Papier eingewickelt … das ist witzig.“

Alle anderen lachten auch.

„Heisst das, ich bin dabei?“, fragte die WC-Rolle leicht flehend.

„Klar bist du dabei“, bestätigte König Karl, „genau solche Ideen brauchen wir.“

Das war das erste Mal, dass König Karl beobachten konnte, wie sich eine Rolle kugelte, … vor lauter Freude.

Die Rolle der Mumie war also weg.

„Sonst noch Rollenwünsche?“, warf König Karl in die Runde.

„Ich spiele einen Drachen. Ich spiele einen Drachen.“ Gabi war kaum mehr zu halten.

„Dann spuck mal Feuer“, forderte Benno Gabi heraus.

Gabi spuckte.

Aber kein Feuer.

Benno wischte sich den Speichel vom Geäst. „Sie hat mich angespuckt. Dieser Schweinedrachen.“

Damit war die Rolle des Schweinedrachens auch vergeben.

„Jetzt brauchen wir noch eine Prinzessin.“ König Karl notierte sich alles. „Wer will die Prinzessin sein?“

Alle schwiegen.

Benno schaute gedankenversunken aus dem Küchenfenster und knabberte an seinen nicht vorhandenen Fingernägeln.

Alle schauten zu Wilma. Doch die Waldfee war beleidigt, weil ihre Geschichte mit den Lilien, Röslein und Veilchen so geringgeschätzt wurde und meinte schnippisch: „Prinzessin? Wer will schon eine Prinzessin? Ich mache höchstens als Souffleuse mit.“ Wilma mochte das Wort Souffleuse.

Niemand wollte die Prinzessin sein.

„Ich finde, Benno würde sich in einem rosa Tütü ganz gut machen.“ Gabi drehte den Spiess für einmal herum und alle lachten mit.

„Das einzige was an mir je rosa sein wird, ist meine Zunge“, antwortete Benno und streckte dieselbe Gabi Glückskind entgegen.

„Tja. Dann bleibt nur noch Zino, der Zwerg, als Prinzessin“, schlussfolgerte Max.

Alle Augen richteten sich auf Zino. Dass ihm die Idee missfiel, war offensichtlich. Lieber hätte er natürlich den alten, weisen König gespielt, mit seinem grauen, langen Bart.

„Ich als Prinzessin? Meint ihr das geht? Mit meinem grauen Bart?“ Zino versuchte, das Steuer noch herumzureissen.

„Klar geht das. Wir nennen dich einfach Prinzessin Graubart.“ Benno Baumelf lachte laut.

„Ok. Wenn ich aber Prinzessin Graubart sein muss, bleibt für dich, lieber Herr Baumelf, nur noch die Rolle des edlen Prinzen, der Prinzessin Graubart rettet und sich mit ihr vermählt.“

Benno schluckte hörbar.

„Prinz Baumelf, der Schnuselige.“ Zino lachte laut.

„Na. Dann wären ja die wichtigsten Rollen verteilt und das Märchen kann beginnen. Welchen Titel wählen wir?“, fragte König Karl.

Nach langem Hin und Her einigten sie sich auf:

„Prinz Baumelf, der Schnuselige, der gegen den Schweinedrachen und seine Mumie kämpft, um Prinzessin Graubart zu retten.“

König Karl wies mehrmals darauf hin, dass dieser Titel viel zu lang sei. Aber niemand wollte sich selbst aus dem Titel streichen.

„Jetzt brauchen wir nur noch ein Drehbuch“, stellte König Karl fest.

Gabi Glückskind spurtete zum Bücherregal, holte ein Buch, legte es mitten auf den Tisch und begann es zu drehen.

Benno legte seinen Arm um Gabi: „Bücher fliegen nicht, liebe Gabi. Sie sind keine Helikopter“

Max korrigierte: „In ein Drehbuch schreibt man die Geschichte, die aufgeführt werden soll. Wir müssen jetzt eine Geschichte erfinden und diese aufschreiben.“

Eine Geschichte zu erfinden, war nicht schwierig. Sie entwickelte sich einfach spontan, während der Probe …

denn …

„ … es war einmal ein speichelspuckender Schweinedrachen. Er entführte Prinzessin Graubart aus ihrem Schlossgarten. Er lauerte ihr auf und bespuckte sie. Prinzessin Graubart wurde vor lauter Ekel ohnmächtig. Der Diener des Schweinedrachens, die von allen gefürchtete rollende Mumie, schleppte Prinzessin Graubart ins Land des Schweinedrachens.

Als Prinz Baumelf, der Schnuselige, davon erfuhr, beschloss er, Prinzessin Graubart zu retten. Nicht etwa, weil er in sie verliebt war. Er mochte keine grauen Bärte an Prinzessinen. Aber er war halt eben schnuselig und konnte niemanden leiden sehen.

Bewaffnet mit einer Ketchupflasche wagte sich Prinz Baumelf, der Schnuselige, ins Land des spuckenden Schweinedrachens. Sie lieferten sich eine heftige, schreckliche Schlacht, die wir jedoch nicht weiter erläutern wollen.

Als Prinzessin Graubart und die rollende Mumie jedoch feststellten, dass Prinz Baumelf, der Schnuselige, und der gefürchtete Schweinedrachen eher mit sich selbst beschäftigt waren, als mit der Geschichte, beschlossen sie, sich ineinander zu verlieben, um dem Märchen ein für allemal ein Ende zu setzen.

Und, weil niemand bei all diesem Chaos gestorben ist, leben sie alle noch heute …“

König Karl war zufrieden. Er hatte vor Beginn der Probe sein dickes Buch geöffnet und schrieb alles hinein, was sich spontan entwickelte.

Wilma parfümierte ihr Blütenkleid. Zu soufflieren gab es nichts.

Und Max, der Magier? Er öffnete seinen Mund, steckte den letzten Rest seines Gipfelis hinein, kaute zufrieden und fand alles einfach zauberhaft.

 

ENDE