Die verschwundene Prinzessin

Die kleine Prinzessin entfernt sich spielend immer weiter vom Schloss und jagt ihrem Vater, dem König einen gehörigen Schrecken ein, der sofort eine Entführung vermutet. Aber Magier Max und seine Freunde helfen.

Ines Heckmann

Die verschwundene Prinzessin

König Karl eilte in den Thronsaal. Er war bleich und murmelte leise vor sich hin.

Magier Max trat zu ihm und fragte:

“König Karl, was ist los? Du bist so blass.”

“Was?” Völlig verwirrt blickte König Karl den Magier an. Dann stotterte er: “Meine Tochter ist verschwunden. Sie ist weg. Ihr Zimmer ist leer. Sie ist weg. Sie ist entführt oder Schlimmeres.”

Bedächtig neigte Magier Max den Kopf. “Vielleicht geht sie nur im Garten spazieren.”

Doch König Karl schüttelte heftig den Kopf. “Da habe ich schon nachgesehen. Sie wurde entführt. Ich weiss es. Ich spüre es. Tu doch was, Magier!”, flehte er den Magier an.

Der Magier nahm den Zauberhut vom Kopf und kratzte sich nachdenklich in den Haaren. “Ich muss mich beraten”, sagte er und liess König Karl vorm Thron stehen.

Magier Max eilte die Stufen vom Schloss hinab. Ohne sich umzublicken, rannte er über den Kiesweg, dann über die kleine Wiese. Erstaunt hob eine Ziege den Kopf, blickte ihm verwundert nach und knabberte dann wieder an einem Grasbüschel. Immer weiter rannte Magier Max, bis er völlig ausser Atem den Waldrand erreichte. Dort blieb er erst mal stehen und atmete tief durch, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann rief er laut: “Wilma Waldfee! Wilma! Bist du hier?”

“Brüll doch nicht so”, säuselte eine Stimme neben ihm. “Ich bin doch nicht taub.”

“Ah, da bist du ja, liebe Wilma”, freute sich Magier Max.

Wilma steckte sich ein frisches Blümchen an den hellgrünen Mantel und betrachtete Max. “Warum bist du so abgehetzt? Ist was passiert?”

Magier Max nickte. “Seine Majestät König Karl vermutet, dass seine Tochter entführt wurde.”

“Entführt? Wer sollte das Kind denn entführen?”, wunderte sich Wilma.

“Das ist es ja. Ich glaube nicht, dass sie entführt ist, aber König Karl sorgt sich sehr. Lass uns das Mädchen suchen. Dann bringe ich es zum Schloss zurück, und König Karl ist wieder glücklich.”

Nachdenklich wiegte Waldfee Wilma den Kopf. “Ich rufe meine Freunde. Die können und sicher helfen.” Sie drehte sich um, bückte sich und hob einen kleinen, abgestorbenen Ast auf. Mit dem schlug sie leicht gegen einen umgestürzten Baum. Der Baum war hohl und klang wie eine Trommel. Bong - bong - bong. Wilma trommelte eine Weile, dann stoppte sie und lauschte. Schliesslich trommelte sie erneut. Bongbong - bongbong - bong. Es raschelte.

Das Laub vom vergangenen Jahr bewegte sich. Eine dunkelgrüne Gestalt erhob sich daraus, schüttelte sich und rieb sich verschlafen die Augen. “Wieso weckst du mich?”, fragte der kleine grüne Mann.

“Benno, mein lieber Baumelf. Du musst uns helfen!”

Doch ehe Wilma erklären konnte, worum es geht, hörten sie leises, fröhliches Summen.

“Das ist Glückskind Gabi”, rief Wilma. “Gabi, Gabi”, rief sie und eilte auf das Glückskind zu. Sie umarmte sie herzlich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

“Langsam, langsam”, lachte Gabi und wischte sich heimlich den nassen Kuss ab. Sie trug einen Hut aus einen Fliegenpilzkappe und war völlig in weiss gekleidet. Wenn man nur flüchtig hinsah und Gabi ganz still stand, sah sie wie ein grosser Fliegenpilz aus. Wilma wunderte sich, wie jedes Mal, wenn sie Gabi sah, wieso Gabis Kleidchen niemals schmutzig wurde. Doch das war jetzt nicht wichtig. Wilma öffnete gerade den Mund, als jemand an ihrem Mantel zupfte. Sie wand sich um. Hinter ihr stand Zino, der Zwerg und blickte sie neugierig an. Auch ihn begrüsste Wilma mit einer herzlichen Umarmung.

Magier Max räusperte sich. “Ich unterbreche euch ja nur ungern, aber…”

“Schon gut”, rief Wilma und wandte sich an die Helfer, die nun neugierig im Halbkreis um Wilma und Max herumstanden. “Die Prinzessin, die Tochter von König Karl ist verschwunden. Vielleicht wurde sie entführt.” Plötzlich murmelte und rief alles durcheinander. Wilma musste einen Moment lang warten, bis es wieder ruhiger wurde. Dann sprach sie weiter: “König Karl befürchtet, dass sie entführt wurde.”

Baumelf Benno kicherte leise. “Seit vielen Jahren gibt es hier keine Räuber mehr, keine Drachen, keine Diebe.”

“Das stimmt”, warf Zwerg Zino ein. “Also eine Entführung war das bestimmt nicht.”

“Aber wo ist sie denn?”, fragte Magier Max.

“Wir müssen sie suchen”, warf Glückskind Gabi ein. “Wahrscheinlich spielt sie irgendwo und hat die Zeit vergessen.”

“Also”, rief Waldfee Wilma. “Ihr wisst, was ihr zu tun habt!”

Der Magier Max holte aus seinem Umhang eine Glaskugel hervor, polierte sie und starrte angestrengt hinein. Zwerg Zino griff in sein kleines Jäckchen und zog bunte Stäbchen heraus. Diese warf er zu Boden und betrachtete sie angestrengt. Baumelf Benno hatte sich vor einen grossen Ameisenhaufen gehockt und flüsterte mit den emsig hin und her laufenden Tieren. Gabi Glückskind stand reglos neben einem Baum und hielt die Augen geschlossen. Sie sah aus als ob sie schlief, aber sie war hellwach und dachte nach. Und Waldfee Wilma überwachte das ganze.

Nach einer Weile rief Wilma: “Freunde, habt ihr etwas herausgefunden? Zwerg Zino, was sagen dir die Stäbchen?”

Zwerg Zino warf nochmals einen letzen Blick auf die Stäbchen und sprach: “Ich kann nicht erkennen, wo sie ist, doch sie ist gesund und es geht ihr gut.” Er sammelte die Stäbchen ein und steckte sie wieder in sein Jäckchen.

Erleichtert schnaufte Magier Max.

“Und was hast du herausgefunden?”, wollte Wilma von Gabi wissen.

Gabi schlug die Augen auf und lächelte. “Sie habe sie gespürt. Die Prinzessin ist hier in der Nähe.”

“Oh wie schön”, rief Wilma. “Wo denn?”

Bedauernd zuckte die Achseln. “Das weiss ich nicht.”

“Schade. Hast du etwas in der Glaskugel gesehen, Max?”

Der Magier nickte. “Ich sah, dass die kleine Prinzessin im Gras sitzt. Sie singt. Doch ich sehe nicht, wo das ist”, fügte er traurig hinzu und senkte den Kopf, so dass ihm der Zauberhut über die Augen rutschte. Langsam steckte er die Kugel wieder in seinen Umhang.

Baumelf Benno, der noch immer vor dem Ameisenhügel sass, erhob sich langsam. “Ich glaube, ich weiss was.”

“Was denn?” “Sprich schon.” “Was ist mit dem Kind?”

Alle redeten durcheinander, und Benno hob Hilfe suchend die Arme, bis alle wieder still waren. “Die Ameisen haben sie mit der Ziege gesehen.”

“Welche Ziege?”, fragte Zwerg Zino verwirrt.

“Das weiss ich auch nicht”, antwortete Benno. “Aber sie sprechen von einer Ziege.”

Ratlos sahen sich die Freunde an. Wilma räusperte sich. “Lassen wir alles nochmals zusammen fassen. Die Prinzessin ist hier in der Nähe. Sie singt und spielt. Es geht ihr gut. Und sie hat irgendwas mit einer Ziege zu tun.” Sie legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. “Was kann das bedeuten?”

Plötzlich sprang Magier Max hoch und schlug sich gegen die Stirn. “Die Ziege”, rief er. “Ich weiss, wo die Ziege ist! Ich habe sie vorhin gesehen!”

“Wo?”, wollten alle gleichzeitig wissen.

“Auf der Wiese vor dem Wald.” Schon eilte er wieder aus dem Wald heraus. Benno Baumelf und Gabi Glückskind blieben zurück, denn ihre Haut war so zart und empfindlich, dass sie die Sonne nicht vertrugen. Sie winkten den anderen nach und riefen laut: “Viel Glück!”

Magier Max musste seinen Zauberhut festhalten, damit er ihn nicht verlor, so schnell rannte er aus dem Wald. Bald erreichte er die Wiese. Doch die Ziege, die er auf seinem Weg in den Wald gesehen hatte, war verschwunden.

“Oh nein”, jammerte er und fiel verzweifelt auf die Knie.

Jetzt hatten auch Zwerg Zino und Waldfee Wilma den Platz erreicht und blickten sich um. Von der Ziege war nichts zu sehen.

Zwerg Zino holte erneut seine bunten Stäbchen vor und warf sie ins Gras. Dann betrachtete er sie von allen Seiten und sagte schliesslich: “Das ist seltsam. Meine Stäbchen sagen, die Ziege wohnt wohl in einem Haus.”

Magier Max blickte völlig unverständlich, Zino zuckte die Achseln, und Wilma sah sich aufmerksam um.

“Da!”, rief sie plötzlich. Halb hinter zottigen Büschen hatte sie etwas entdeckt. Auf den ersten Blick wirkte es, wie zufällig zusammen gelegte Bretter, aber als die drei näher kamen, erkannten sie, dass es ein Unterschlupf war. Drei Seiten waren mit Holzbrettern verschlossen und das Dach war schon grün vor Moos. Die vierte Seite aber war offen. Dort sahen sie die Ziege auf einer dicken Lage gelbem Stroh liegen. Bedächtig kaute sie vor sich hin. Neugierig betrachtete sie Magier Max, Zwerg Zino und Waldfee Wilma.

“Was führt euch her?”, wollte sie wissen und streckte sich ein wenig.

“Hast du die Prinzessin gesehen? Die Tochter von König Karl?”, platzte Magier Max heraus.

Die Ziege nickte und kaute gewissenhaft weiter.

“Und?” Wilma konnte ihre Ungeduld kaum noch zügeln. “Wo ist sie?”

“Hier”, sagte die Ziege kurz.

“Wo?”, riefen Zino, Wilma und Max gleichzeitig.

Die Ziege seufzte. “Seid ihr blind?”, wollte sie wissen und erhob sich schwerfällig. Dann spazierte sie kopfschüttelnd aus dem Unterschlupf heraus.

Magier Max verrenkte sich fast den Kopf, als er den Unterschlupf absuchte. Tatsächlich, da lag die Prinzessin und schlief seelenruhig hinter einem Strohballen. Hektisch winkte Max und Wilma und Zino eilten herbei. Erleichtert blickten sie auf das friedlich schlafende Kind. Verstohlen wischte eine Wilma kleine Freudenträne aus ihren Augen.

Max bedankte sich bei Zino und Wilma und die beiden drehten sich wieder zurück zum Wald. Diesmal allerdings spazierten sie gemütlich.

Vorsichtig weckte Magier Max die kleine Prinzessin. Sie strahlte ihn an. “Ich habe mit der Ziege gespielt”, rief sie, “und dann bin ich eingeschlafen.”

“Und wieso bist du weggelaufen?”

“Bin ich nicht. Ich habe von meinem Zimmerchen die Ziege gesehen und bin zu ihr gegangen. Und beim Grasessen ist sie immer ein Stückchen weiter gelaufen. Und ich bin ihr hinterher.”

“Ach so war das. Aber jetzt lass uns mal nach Hause zu deinem Vater gehen.” Max reichte der Prinzessin die Hand und gemeinsam gingen sie über die Wiese, über den Kiesweg, die Stufen zum Schloss hinauf, direkt in König Karls Arme. Freudestrahlend umarmte er seine Tochter und bedeckte sie über und über mit kleinen Küsschen. Und Magier Max warf er dankbare Blicke aus tränenfeuchten Augen zu.

ENDE