Der Magier und die entführte Waldfee
Wie Zino, Gabi und Benno die entführte Waldfee zurückholen und dem Magier eine Lektion erteilen.
Astrid Schwarz
Der Magier und die entführte Waldfee
Dort drüben im Tannenwald gleich hinter dem Dorf wohnt ein kleines Volk von Zwergen, Elfen und Feen. In einer Waldlichtung liegt ein blaugrüner See und mitten im See steht ein Schloss. Kein Laut dringt durch die dicken schweren Mauersteine. Im Schlossturm wohnt Max, der Magier, und seit er dort eingezogen ist, wechseln die Steine die Farbe wie Max seine Launen. Im Moment ist der Turm grau: Max langweilt sich. Aber Max wäre kein Magier, wenn er keine Langeweile vertreiben könnte.
Kurzerhand schwingt er den Zauberstab und mobilisiert seine Kräfte, bis der Stab zittert. Seine Stimme tönt, als ob sie tief aus seinem Bauch heraus kommt: „Zick zack Funkelstein, der Wald ist mein!"
Im nächsten Augenblick sitzt Max auf einem Ast und sieht, wie Wilma mit einer Tanne spricht, deren Nadeln braun und schlapp sind. Als Wilma trällernd weitergeht, steigt Max flink vom Baum herunter und schleicht der Waldfee nach. Dabei streift er die kranke Tanne.
„Au!", schreit Max und reibt sich den Arm. Und dann sieht er, dass die Nadeln der Tanne nicht mehr braun, sondern grün und gesund und kräftig sind. ‚Hä?’, denkt er, ‚kann Wilma zaubern?’ Schnell folgt er ihr.
Inzwischen ist Wilma bei den Blumen am Seeufer angelangt. Sanft streicht sie über die zarten Blätter, bis aus den Poren ein intensiver lieblicher Duft steigt, der wie Wellen direkt an der Nase von Max vorbeizieht. Max atmet tief ein, bis sein Herz warm und sein Kopf beduselt ist. Seine Augen sehen nur noch Wilma.
‚Wilma’, säuselt es in seinem Kopf, ‚meine Magierin …'
Max fängt die Waldfee mit seinen Armen ein.
„Lass mich sofort los!", schreit Wilma und zappelt wild.
Aber Max hält sie fest umschlossen. Ihre hohe feine Stimme tönt wie Musik in seinen Ohren.
Er bewegt seinen Zauberstab: „Zick zack Funkelstein, Wilma ist mein."
Und schwupps verschwindet er mit ihr im Turm. Die Steine des Turms verfärben sich rosarot.
Benno steht keuchend und mit weit aufgerissenen Augen am Seeufer.
„Unglaublich", krächzt der Baumelf und starrt auf den rosaroten Turm. Benno holt tief Luft, schüttelt sich und eilt so schnell er kann in den Wald hinein. Sein Körper ist lang und schwer, wie ein Baumstamm, und wenn er rennt, sieht es aus, als ob er hüpfen würde.
„Zino", ruft er, „Zino." Seine tiefe, starke Stimme dringt durch den ganzen Wald. Plötzlich sieht er die rote Mütze des Zwerges hinter einem Ameisenhaufen auftauchen.
„Zino … endlich!"
„Was ist los?", fragt Zino.
„Der Magier hat Wilma entführt!", sagt Benno.
Zino runzelt die Stirn und zieht die Augenbrauen zusammen. „Bist du sicher?", fragt er.
„Ja, sieh doch, der Turm ist rosarot", sagt Benno. „Der Magier ist verliebt … in Wilma. Er hat sie mit in den Turm genommen."
Zino verschwindet hinter dem Ameisenhaufen und kommt mit einem langen dicken Seil zurück.
„Wir holen sie raus", sagt er, „und wir nehmen Gabi mit, die bringt uns Glück."
Schon von weitem sehen sie Gabis roten Pilzhut mit den weissen Tupfen.
„Gabi komm, wir müssen Wilma aus dem Schlossturm befreien."
„Wieso ist sie im Schlossturm?", fragt Gabi und rennt ihnen nach.
Als sie am Seeufer ankommen, erzählt Benno, was passiert ist. Still schauen die Drei auf das dunkle Wasser. Inzwischen ist es Nacht geworden.
„Und wie kommen wir jetzt über den See?", fragt Benno.
„Pst", sagt Gabi, „ich höre etwas … da!"
Ketten rasseln, es giert und knarrt. Und dann fährt langsam die Zugbrücke runter. Das Holz ächzt im eingezwängten Metallrahmen, der mit einem dumpfen Knall am Seeufer aufschlägt.
„Was für ein Glück", juchzt Gabi und tanzt im Kreis herum.
„Schnell", sagt Zino, „unter die Brücke."
Ein Gespann von vier Pferden trabt über die Brücke und zieht die goldene Kutsche des Königs hinter sich her.
„Es sitzt nur der König drin", flüstert Zino, „los … zum Turm."
Kaum sind die Drei auf die Brücke geklettert, fangen die Ketten wieder an zu rasseln. Der Boden unter ihren Füssen wird immer schräger … sie rutschen. Kurz bevor die Brücke zuschlägt, springen sie ab und landen auf der Wiese vor dem Turm.
„Glück gehabt", sagt Gabi, „ist bei euch alles gut?"
„Ja", flüstert Zino und hilft Benno aufzustehen.
„Stell dich unter das Fenster, Benno", sagt Zino und klettert auf Bennos Kopf. Zino sieht einen prächtigen Leuchter über einer Tafel mit zwei Gedecken. „Hier ist sie nicht."
„Ich habe sie gefunden", flüstert Gabi in Bennos Ohr.
Dieser lässt vor Schreck Zino fallen. „Himmel … hast du mich erschreckt!", sagt Benno.
„Ei sapperlot", tönt es von Zino. Flink steht er auf. „Wo ist sie?"
„Auf der hinteren Seite des Turms schimmert in einem Fenster ein schwaches Licht", sagt Gabi und unterdrückt einen Schluchzer. „Wilma sitzt tief unten auf einem Bett und weint. Es brennt nur eine Kerze, sonst ist es fürchterlich dunkel." Tränen kullern über Gabis Wangen.
Die Drei rennen durch die Dunkelheit hinter den Turm. Zino drückt die Nase ans Fenster und klopft mit der Faust an die Scheibe. Wilma hat das Gesicht ins Kopfkissen gedrückt, ihr Körper bebt.
„Sie hört mich nicht", sagt Zino. Er zieht sein Beil aus dem Gürtel und schlägt das Fenster ein. Klirrend fallen die Scherben auf den Steinboden. Wilma springt mit einem Satz aus dem Bett und schaut zum Fenster hoch.
„Wilma", ruft Zino, „hab keine Angst. Wir holen dich raus."
„Zino?", ruft Wilma, „Zino, bitte hilf mir!"
Zino wirft das eine Ende des Seils hinunter.
„Halt dich fest, Wilma, wir ziehen dich rauf!"
Das andere Ende des Seils bindet Zino um den Bauch von Benno.
„Gabi und ich ziehen, und du, Benno, drehst dich um dich selbst und wickelst das Seil auf", sagt Zino und ruft durchs kaputte Fenster: „Los geht’s, Wilma!"
Ziehen und drehen, ziehen und drehen, ziehen und drehen.
Und dann endlich liegt Wilma in den Armen ihrer Freunde.
„Danke, ich danke euch!", sagt Wilma und wischt sich die Tränen aus den Augen.
„So, jetzt aber schnell", sagt Zino. „Wir verstecken uns neben der Zugbrücke, bis der König zurückkommt."
„Oh weh, der König bleibt die ganze Nacht weg", sagt Wilma, „morgen findet im Wald auf der anderen Seite des Dorfes ein Fest statt. Er wurde vom Nachbarkönig dazu eingeladen."
Zino schüttelt den Kopf. „So lange können wir nicht warten. Dann müssen wir eben schwimmen."
„Ich kann nicht schwimmen", sagt Gabi und wird rot.
„Du kannst dich auf meinen Rücken setzen", sagt Benno, „ich bin stark wie ein Baumstamm."
Hinter ihnen ertönt ein hässliches Lachen.
„Hä, hä, hä … seid willkommen", sagt Max und greift nach dem Seil, an dessen Ende noch immer Benno hängt. Der Magier hebt den Zauberstab: „Zick zack Funkelst … lass sofort los!"
Doch Zino hat den Zauberstab fest gepackt und zieht und zerrt und reisst ihn Max aus der Hand. Blitzschnell wirft Zino den Stab durchs kaputte Fenster in den Turm. Dann gibt er Max einen Schubs und dreht ihn so lange im Kreis, bis dieser vollständig mit dem Seil eingewickelt ist. Gleichzeitig wird Benno in einem Affenzahn ausgewickelt. Er torkelt und fällt um.
„Ui, Benno!", ruft Wilma und eilt ihm zu Hilfe.
Inzwischen hat Zino den Magier fest verschnürt. Jetzt zieht er die lange, spitzige Nase von Max zwischen den Seilsträngen an die Luft.
„Wilma, wenn du möchtest, kannst du dich auf den eingewickelten Max setzen und dich an seiner bleichen Nase festhalten", sagt Zino. „Ich ziehe euch über den See ans andere Ufer."
Wilma und Gabi kichern, während aus dem Bündel Seil ein tiefes Brummen ertönt.
Langsam steigt die Truppe ins Wasser und kommt wohlbehalten am anderen Ufer an.
„Und was machen wir mit Max?", fragt Wilma.
„Oh, wir zeigen ihm, wie das ist, an einem fremden Ort festgehalten zu werden", sagt Zino und lächelt verschmitzt.
Zino bindet Max an den Baum gleich neben dem Ameisenhaufen.
„So", sagt Zino, „und nun graben wir seine Ohren und Augen aus, damit Max sehen und hören kann, was sich in einer Vollmondnacht so alles tut … in einem Wald voller Fledermäuse, Füchse und Ameisen."
„Alles klar, Max?", sagt Zino und tätschelt ihm den Kopf."
Max’s Brüllen ist nur ein dunkler Ton, aber seine Augen sehen aus, als würden sie gleich herausspringen.
„Damit du sicher nicht erstickst", sagt Zino, „nehme ich jetzt das Seil aus deinem Mund. Aber an deiner Stelle würde ich ihn geschlossen halten, die Ameisen krabbeln überall rein … echt lästig. Gute Nacht, Max."
Als Zino am nächsten Morgen zum Baum kommt, sind Benno, Wilma und Gabi schon da. Max kann die Augen kaum noch offen halten, sie sind blutrot unterlaufen, sein Mund ist fest zusammengepresst, und auf seiner Nase laufen die Ameisen ihre neu geschaffene Strasse ab.
Sie binden Max los und wickeln ihn langsam aus dem Seil. Seine Haut ist verschrumpelt und in den Falten krabbeln Ameisen.
„Kapiert, Max!?", fragt Zino und schaut ihm tief in die Augen.
Max schluckt und nickt.
„Dann hau ab!", sagt Zino.
Die Freunde schauen zu, wie Max Richtung See torkelt und dann hören sie ein lautes ‚Platsch’, wie wenn jemand mit grossem Anlauf ins Wasser springt.
„Jupiiiii", juchzt Wilma und macht einen Freudensprung.
„Ich danke euch von ganzem Herzen!", sagt Wilma und umarmt jeden ihrer Freunde und drückt sie fest an ihr Herz.
„Lasst uns zum Waldfest gehen!", sagt Gabi und tanzt ausgelassen um die kleine Gruppe herum.
„Hoh, hoh …", sagt Benno, „dann müssen wir aber an den Menschen vorbei!"
„Na, und?", sagt Zino, „die können uns ja nicht sehen. Auf geht’s!"
Fröhlich ziehen die Freunde los in Richtung Dorf, wo das nächste Abenteuer bereits auf sie wartet.
ENDE