Der Magier und der gefallene Vollmond

Wie die Freunde sich um die Schönheit des Vollmondes streiten, bis dieser vom Himmel fällt.

Monika Mansour

Der Magier und der gefallene Vollmond

»Er ist da!«, ruft Zino der Zwerg und hüpft auf seinen kurzen Beinen auf und ab. Der Burghof, vor einer Minute noch dunkel und düster, wird jetzt von einem warmen, goldenen Licht erfüllt.
Auch Gabi das Glückskind kann ihre Freude nicht zurückhalten. Sie wirbelt ihn ihrem weissen Kleidchen im Kreis.
Benno der Baumelf und Wilma die Waldfee singen im Chor: »Er ist da, er ist da.«

Nur Karl der König und der weise Magier Max stehen an der Burgmauer und schauen dem freudigen Treiben zu, ein Lächeln auf ihren Gesichtern.
»Jeden Monat das gleiche Freudenfest«, sagt der König.
»Sie lieben ihn eben«, sagt Max der Magier und schaut hoch zum Himmel. »Sie lieben ihn eben, den Vollmond.«
»Ja«, sagt der König und nimmt seine Krone vom Kopf. »Er strahlt goldener als meine Krone.«
»So strahlend hell wie meine schönste Zauberkugel ist er«, meint der Magier.

Da kommt Gabi das Glückskind angehüpft. »Schön wie Gold? Wie eine Zauberkugel? Nein, der Vollmond ist viel mehr!« Sie streckt die Hand zum Himmel hoch. »Wir Glückskinder nennen den Vollmond Luna. Luna ist unsere Beschützerin.«

»Schön wie die Krone des Königs, glänzend wie die Zauberkugel, Luna die Beschützerin? Nein. Ein Trabant ist er«, sagt Zino der Zwerg. »Wie ich ein Zwerg neben Mutter Erde aber ohne den Trabanten wäre die Erde nur halb so lebenswert.«
Benno der Baumelf mischt sich ein. »Krone, Zauberkugel, Luna, Trabant? Alles falsch. Der Vollmond ist nur ein Himmelskörper und hängt an der Erde wie die Tannzapfen an den Ästen der Tannen.«
»Nein, nein, nein«, ruft plötzlich Wilma die Waldfee und schwebt zu den anderen herüber. »Der Vollmond ist nicht golden, oder glänzend, keine Luna und kein Trabant, kein fader Himmelskörper.« Sie holt ein kleines Gläschen unter ihrem Hut hervor. »Schaut doch her!« Sie streckt es hoch ins Licht des Mondes. »Der beste Honig, den die Bienen mir heute geschenkt haben. Süss und zart und strahlend gelb. Wie unser Mond. Ja, das ist er. Ein Honigmond.«
»Quatsch!«, ruft Zino der Zwerg. »Er ist ein Trabant.«
»Beleidigt meine Luna nicht. Das bringt Unglück«, warnt Gabi das Glückskind.
»Himmelskörper bringen weder Glück noch Unglück. Sie sind einfach da.« Benno der Baumelf verschränkt wütend die Arme.
»Nein! Falsch! Ihr habt ja keine Ahnung!«, rufen alle wild durcheinander.
Karl der König und Max der Magier schauen sich fragend in die Augen.
»Da haben wir schön was angerichtet«, sagt der König. »Jetzt streiten sie über den Mond, statt sich daran zu erfreuen.«
»Es wird Zeit für ein kleines Spiel«, sagt Max der Magier. Er zieht seinen Zauberstab unter seinem grossen, schwarzen Zauberhut hervor. Mit dem Stab wedelt und kreist er in der Luft herum und nuschelt unverständliche Wörter in den Nachthimmel hinaus.
Plötzlich gibt es einen lauten Knall!
Die Luft vibriert. Der Himmel bricht auf. Ein Tornado wirbelt herunter, kracht mitten auf den Innenhof der Burg. Blitz und Donner überall.
Die Freunde bringen sich in Deckung, halten sich an etwas fest oder drücken sich gegen die breiten Burgmauern. Es wird auf einmal dunkel. Finster. Unheimlich.
»Ich habe doch gesagt, es bringt Unglück, wenn man Luna beleidigt«, jammert Gabi.
»Da! Schaut doch!«, ruft Benno der Baumelf, kaum hat sich das Chaos etwas gelegt. »Ich hatte recht. Der Mond ist nur ein Himmelkörper. Und jetzt ist er vom Himmel gefallen wie ein Tannzapfen von einem Ast.«
Tatsächlich liegt jetzt mitten auf dem Burghof der Vollmond. Rund und glänzend und wunderschön, aber kaum noch grösser als ein Ball. Alle starren sie zum Himmel hoch. Dort oben ist es jetzt trostlos, dunkel und düster. Nicht einmal mehr die Sterne glänzen hell.
»Ein Zwerg!«, ruft Zino der Zwerg und tritt vorsichtig neben den Vollmond. »Ich wusste doch, unser Trabant ist ein Zwerg.«
Alle stehen sie ratlos um den Mond herum.
Nur der Magier verkneift sich ein Lächeln. »Euer dummer Streit hat den Mond vom Himmel geholt«, sagt er. »Jetzt liegt es an euch, ihn wieder zurückzubringen. Ihr habt nicht viel Zeit. Wenn die Sonne aufgeht, ist es zu spät. Dann kann der Mond nicht mehr zurückkehren.«
»Wie machen wir das?«, fragt Wilma die Waldfee. »Oh, unser schöner Honigmond.«
Alle lassen sie traurig die Köpfe hängen. »Tut uns leid, lieber Mond. Wir wollten uns nicht wegen dir streiten.«
»Er glänzt wie die Krone des Königs«, gesteht Zino der Zwerg.
»Und man darf Luna nicht verärgern«, sagt Benno der Baumelf.
»Süss wie Honig schaut er aus«, meint Gabi das Glückskind
»Und obwohl klein, hat der Trabant eine grosse Macht«, sagt Wilma die Waldfee.
»Er ist ein Himmelskörper.« Der König seufzt. »Und jetzt ist er vom Himmel gefallen.«
Die Freunde versuchen alles. Sie entschuldigen sich beim Vollmond. Sie betteln, er möge wieder zurück an den Himmel kehren. Sie versprechen ihm Geschenke. Der König gibt sogar den Befehl, er müsse zurückgehen. Aber nichts hilft. Der Vollmond liegt da, mitten auf dem Burghof, und rührt sich nicht.
Langsam bricht die Morgendämmerung an.
»Oh nein«, sagt Gabi das Glückskind. »Nicht mehr lange und die Sonne geht auf.«
»Geh schon zurück!« Zino der Zwerg wird wütend und kickt mit seinem Fuss gegen den Mond. Hoch soll er fliegen.
Und er fliegt. Und landet im hohen Bogen wieder am Boden.
»Das war ein schlechter Kick«, sagt Benno der Baumelf und will es besser machen.
Und so spielen sie den Mond hin und her, wie einen Fussball. Immer schneller wird das Spiel. Auch der König macht mit. Bald schon haben sie vergessen, um was es hier geht. Sie spielen die Kugel, dribbeln und tanzen damit, tricksen sich aus. Und lachen fröhlich in ihrem Spieleifer.
Als plötzlich der erste Sonnenstrahl den Burghof berührt, erstarren sie. In ihrer Spielfreude haben sie ganz vergessen, den Mond wieder zurückzubringen. Jetzt ist es zu spät.
»Oh nein«, sagt Gabi das Glückskind. »Wir haben versagt. Jetzt ist der Mond für immer verloren. Keine Nächte mehr, in denen wir uns an ihm erfreuen können.«
Da tritt der Magier zum ersten Mal auf den Platz und nimmt den Vollmond in die Hände. »Ihr habt euch doch heute Nacht an dem Mond erfreut«, sagt er und grinst. »Noch nie habe ich euch mit so viel Freude spielen sehen. Kein Streiten, kein Wetteifern, wer recht hat. Ihr habt einfach zusammengespielt und Freude gehabt.« Er hebt den glänzenden Vollmond herausfordernd hoch. »Es war euch egal, ob der Mond aus Gold ist, oder süss wie Honig, ob er Luna heisst oder Trabant, oder dass er einfach nur ein Himmelskörper ist. Das war die erste Nacht sei vielen Vollmondnächten, in der ihr euch nicht um den Mond gestritten habt, sondern einfach mit ihm eure Freude geteilt habt.«
»Ja schon«, sagt Wilma die Waldfee traurig. »Trotzdem möchte ich den Vollmond wieder am Himmel sehen.«
»Ja, ja, ja!«, rufen alle.
Max der Magier schmunzelt, holt seinen Zauberstab hervor und zeigt damit zum Himmel. Im Licht der aufgehenden Sonne sehen die Freunde, wie sich plötzlich eine dicke, schwarze Wolke zur Seite schiebt. Und dahinter … guckt der wunderschöne Vollmond hervor, bevor er sich im Licht der aufgehenden Sonne schlafen legt.
»Er war nie weg!«, ruft Zino der Zwerg aufgeregt.
»Aber wenn der Vollmond immer am Himmel stand«, fragt Karl der König neugierig, »mit was haben wir denn hier am Boden gespielt?«
Max der Magier lächelt verschmitzt. »Habe ich nicht gesagt, der Mond strahlt hell wie meine schönste Zauberkugel?«

ENDE